header

Michaela Fenske: Ein Dorf in Unruhe: Waake im 18. Jahrhundert (= Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte; Bd. 13), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, 155 S., ISBN 3-89534-246-7, DM 24,80

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (Jahrgang 2001, S. 166 f.)

Rezensiert von:
Jochen Ramming

Als eine "wohlkomponierte Mikrostudie" (7) lobt Carola Lipp in ihrem Vorwort die Arbeit von Michaela Fenske und charakterisiert durch das Präfix "Mikro-" treffend deren methodische Grundlage. Auch die Autorin selbst stellt ihre Untersuchung in die Tradition jener mikrohistorischen Forschungsansätze, die vor allem seit Ende der 1970er Jahre im Umkreis der historischen Anthropologie entwickelt worden sind. Bereits der Titel "Ein Dorf in Unruhe" scheint auf eine frühe mikrohistorische Monographie des Mexikaners Luis Gonzáles y Gonzáles zu verweisen, die 1968 erschien ("Pueblo en vilo. Microhistoria de San José de Gracia"). Sich der Schwierigkeiten im diffusen Verhältnis zwischen Mikro- und Makroansätzen voll bewusst, positioniert die Autorin ihre Studie trotz der unübersehbaren Nähe zur Mikrohistorie vorsichtig "im Schnittpunkt historisch-anthropologischer und volkskundlicher Forschung" (13). Denn schließlich sind im Gegensatz zur traditionellen Geschichtswissenschaft, für die der mikroanalytische Ansatz - zumal in seiner Hinwendung auf "untere Bevölkerungsschichten" - die dominierende Ausrichtung des Faches massiv in Frage stellt, der Volkskunde zumindest die bevorzugten unterschichtlichen Untersuchungsgegenstände vertraut.

Inhaltlich behandelt die vorliegende Arbeit die jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern des kleinen, südlich des Harzes gelegenen Dorfes Waake und der dortigen Gutsherrschaft. Den zeitlichen Kulminationspunkt dieses Konfliktes markieren dabei die Jahre zwischen 1729 und 1733, ein Zeitraum, in dem es sowohl zu Gerichtsprozessen vor der Justizkanzlei Hannover als auch zu handfesten Protesten vor Ort in Waake kam. Gestützt auf ein umfangreiches Quellenkonvolut, bestehend aus Steuerlisten, Lagerbüchern, Akten der landesherrlichen Kammer und der Justizkanzlei Hannover, aber vor allem aus Patrimonialgerichtsprotokollen, rekonstruiert Michaela Fenske minutiös den Verlauf der Unruhen in Waake, die mit der Ankunft des neuen Gutspächters Johann Georg Wegener im Jahr 1718 ihren Anfang nahmen.

Der Autorin gelingt es in ihrer ausführlichen Darstellung der Vorgeschichte überzeugend, die Konfliktparteien gegeneinander in Stellung zu bringen, soziale und wirtschaftliche Strukturen und Abhängigkeiten aufzudecken und insbesondere die jeweiligen Wertvorstellungen und Normen der späteren Prozessgegner zu umreißen. So gibt sich Johann Georg Wegener, der neue Gutspächter, als früher Vertreter eines gerade erwachenden Bürgertums zu erkennen, welcher nicht gewillt war, alte Gewohnheiten um ihrer selbst willen zu respektieren, sondern vielmehr versuchte, durch die Einführung moderner Arbeits- und Wirtschaftsweisen den Ertrag des Gutes zu optimieren. "Rationalität, Religiosität, Rechtschaffenheit und eine hohe Wertschätzung von Bildung, Arbeit, Fleiß, Ordnungsliebe, Reinlichkeit - die Grundwerte des sich konstituierenden Bürgertums werden hier direkt oder implizit vertreten." (45) Dem gegenüber stand die bäuerlich geprägte Gesellschaft der Dorfbewohner. Sie pochte auf "Altes Herkommen", mithin auf ihre nirgends schriftlich niedergelegten Gewohnheitsrechte, und versuchte so, die traditionelle, als relativ sicher empfundene Ordnung im Dorf aufrecht zu erhalten, die sie durch den neuen Pächter massiv gefährdet sah. Wegener seinerseits versuchte in einem ersten Schritt, alle Rechte und Pflichten, die bislang gewohnheitsmäßig Gültigkeit hatten, zu fixieren und sie dann soweit zu verschieben, wie es ihm für eine effektive und gewinnorientierte Bewirtschaftung des Gutes nötig schien. Die diesbezüglichen Maßnahmen, etwa die Erhöhung von Abgaben- und Dienstverpflichtungen, gingen zu Lasten der Dorfbewohner und weckten einen stetig wachsenden Unmut. Schließlich reichte die Gemeinde Waake im Oktober des Jahres 1729 eine 66 Punkte umfassende Klage bei der Justizkanzlei Hannover ein und verdichtete damit den zuvor vereinzelt aufgeflackerten Widerwillen zum konzentrierten Protest.

Michaela Fenske schildert den äußeren Verlauf der gerichtlichen Untersuchungen und des Verfahrens sowie die chronologische Abfolge außergerichtlicher Protest- und Strafaktionen nur knapp, um anschließend die Ereignisse in thematischen Längsschnitten unter verschiedenen Blickwinkeln gleich mehrfach wieder aufzurollen. Durch eine vielschichtige Auslegung ihrer Quellen seziert sie den bäuerlichen Protest in Waake, präpariert daraus aussagekräftige Segmente und kommt damit zu einer enorm differenzierten Darstellung der Vorgänge und ihrer Hintergründe. So werden beispielsweise die wirtschaftliche Situation und die soziale Einbindung einzelner Dorfbewohner im Hinblick auf den Grad ihrer Beteiligung am Protest analysiert; mit dem Ergebnis, dass die anfänglich homogen scheinende Gruppe der protestierenden Waaker Bauern in zahlreiche Einzelpersonen zerfällt, die unterschiedlich stark in den dörflichen Widerstand involviert waren. Diese Beobachtung gewinnt bei der detaillierten Untersuchung der Formen des Protestes erneut an Bedeutung, denn immer wieder mussten einzelne Aktivisten die Gemeinde zu solidarischem Handeln ermuntern. Während bei Widerstandsmaßnahmen vor Ort zumeist auch kleinere Gruppierungen zur Durchführung genügten, erforderte die Einreichung einer gerichtlichen Klage die Zustimmung des ganzen Dorfes. Von besonderem Interesse ist auch hier wiederum die Analyse der widerstreitenden Weltbilder, die bei der Austragung des Konfliktes besonders deutlich zu Tage traten. Der scharfe Blick der Autorin ringt auch diesem Aspekt weitere Differenzierungen ab. Johann Georg Wegener, zunächst vor allem als Pionier des frühen Bürgertums und kühler Unternehmer auftretend, interpretierte seine Rolle als Gutspächter im Verlauf der Auseinandersetzungen dennoch in der Manier eines gestandenen Feudalherren. Und auch die Waaker Bauern kämpften keineswegs in revolutionärer Absicht gegen den Feudalstaat, sondern richteten ihren Widerstand ganz pragmatisch allein gegen den Gutspächter, der nach ihrem Verständnis die wohlgegründete Sozial- und Wirtschaftsordnung des Dorfes gefährdete. Noch tief verwurzelt erscheinen hier die feudalen Traditionen, und trotz des vehementen Auftrittes Wegeners stand zu dieser Zeit die Wende zur Bürgerlichkeit noch ganz am Anfang. Das letztendlich nach einer Revision beim Oberappellationsgericht in Celle ergangene Urteil entspricht dann auch recht exakt diesen Analysen der Autorin, indem es den Bauern in allen Punkten, die dem Erhalt ihrer Wirtschaftskraft galten, Recht gab, zugleich jedoch die Form des bäuerlichen Protestes rügte und die Gemeinde zur widerspruchslosen Unterordnung unter die Gutsherrschaft zwang. Den vom Bürgertum ausgehenden fortschrittlichen Impulsen durften sich die Bauern nicht grundsätzlich entgegenstemmen, doch waren Neuerungen ohne ihre Einbeziehung ebenso wenig möglich.

Michaela Fenskes Mikrostudie könnte demnach letztlich dafür herhalten, die makrohistorischen Erkenntnisse zum Einfluss unterschichtlicher, insbesondere bäuerlicher Proteste auf die Ausbildung moderner Staatlichkeit zu unterstützen und zu ergänzen, doch würde eine solche Indienstnahme als Fußnote dem Informationsgehalt der Arbeit nicht im Mindesten gerecht. Durch die virtuose Kombination der zahlreichen als Quellen herangezogenen Statistiken, Akten und Protokolle sowie durch den dramaturgischen Aufbau der Arbeit im Stil einer historischen "Erzählung", wie sie die historisch-anthropologische Forschung propagiert, erreichte Michaela Fenske eine enorm dichte Beschreibung der Vorgänge in Waake, deren ungemein differenzierte Ergebnisse sich gegen jegliche simple Pauschalisierung sperren. Die Problematik der Verbindung von Mikro- und Makrohistorie wird in dieser Untersuchung erneut offenkundig, wobei ebenso deutlich scheint, dass es sich dabei wohl kaum um ein spezifisches Problem allein der Geschichtswissenschaft handelt.


Vergleichen Sie hierzu auch die Rezension von Stefan Brakensiek in PERFORM 1 (2000), Nr. 1.

Empfohlene Zitierweise:

Jochen Ramming: Rezension von: Michaela Fenske: Ein Dorf in Unruhe: Waake im 18. Jahrhundert, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, in: INFORM 2 (2001), Nr. 5, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=463>

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

footer