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Peter Kissling: "Gute Policey" im Berchtesgadener Land. Rechtsentwicklung und Verwaltung zwischen Landschaft und Obrigkeit 1377 bis 1803 (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1999, VIII + 299 S., ISBN 3-465-027775-2, DM 68,00

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2000, S. 153-154

Rezensiert von:
Jochen Ramming

Bereits 1996 reichte Peter Kissling seine Studie zur Policeygesetzgebung in Berchtesgaden als Lizentiatsarbeit am Historischen Institut der Universität Bern ein. Die drei Jahre später im Druck erschienene überarbeitete Fassung erreicht mit ihren nahezu 300 eng bedruckten und mit rund 1750 Anmerkungen versehenen Textseiten allerdings vielmehr Umfang und Ausmaße einer Dissertation. (Oder sollten sich bereits in dieser Formalie die Differenzen zwischen der Geschichtswissenschaft und der Volkskunde andeuten, die dem volkskundlichen Rezensenten die Würdigung der Arbeit etwas schwierig macht?)

Kisslings Hauptthema und mithin seine grundlegenden Quellen sind die Policeygesetze der Propstei Berchtesgaden, erlassen namentlich unter der Administration des Hauses Wittelsbach während des 17 Jahrhunderts, wobei der Autor insbesondere nach Hinweisen auf eine Beteiligung der Untertanen am gesetzgeberischen Prozeß fahndet. In peniblen Analysen der einschlägigen Archivalien versucht er, die gängige Interpretation der Policeygesetze als einseitig obrigkeitliche Maßnahmen zur sozialen Disziplinierung der Untertanen im aufkeimenden absolutistischen Staatsverständnis aufzuweichen und eine differenziertere Betrachtung der Machtverhältnisse anzumahnen - durchaus mit Erfolg. Einleitend stellt Peter Kissling die politischen Verhältnisse in Berchtesgaden und die überlieferten einschlägigen Gesetzestexte vor. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts vermittelte auf dem Territorium des Stiftes ein sogenannter "Ausschuß" zwischen der Obrigkeit einerseits und den in der "Landschaft" organisierten Untertanen andererseits. Die Bevölkerung Berchtesgadens verfügte somit über eine Institution, die ihre Interessen vor der Regierung artikulieren konnte. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich die Gesetzgebung im Stift umfassend beleuchten, wobei die Schwerpunkte auf den Policeyordnungen von 1629 und 1667 liegen, ohne daß deshalb kleinere Ordnungstexte mit policeylichem Reglementierungsanspruch, etwa bezüglich der Handwerke oder Märkte, außer acht gelassen würden.

Streng entlang der vorliegenden Quellen extrahiert der Verfasser die Interessenslagen und Standpunkte der Obrigkeit sowie der "Land-" und "Bürgerschaft", um damit den wechselseitigen Einfluß beider Gruppierungen bzw. ihrer Vertretungen, dem Landschaftsausschuß einerseits und einem Beamtenapparat unter Leitung der Regierung andererseits, auf die Verordnungsliteratur herausarbeiten zu können.

Dementsprechend stellt Peter Kissling die erste Landes-Polizey von 1629 überzeugend als ein Verhandlungsergebnis zwischen "Landschaft" bzw. Ausschuß und Obrigkeit dar, das aktuelle Probleme zu beiderseitiger Zufriedenheit lösen sollte. An verschiedenen Stellen gelingt es ihm, die Bemühungen der "Landschaft" um Einflußnahme zweifelsfrei herauszuarbeiten, etwa bei den steuerrechtlichen Passagen oder, deutlicher noch, bezüglich der "Ethik" der Landgerichtsbeamten. Langjähriges Fehlverhalten dieser Beamten und das Ausbleiben einer Ahndung von seiten der Regierung führten 1681 sogar dazu, daß die "Landschaft" vor dem Reichshofrat auf Einhaltung der Policey von 1629 klagte und einen Rezeß erwirkte. Die Untertanen wollten sich einmal erkämpfte und nach zähen Verhandlungen festgeschriebene Rechte nicht mehr nehmen lassen.

In gewisser Weise umgekehrt stellt sich das Verhältnis zwischen Obrigkeit und "Land-" bzw. "Bürgerschaft" in den Zunft- und Marktordnungen dar. Hier gaben sich einzelne Gruppen von Untertanen größtenteils allein intern gültige Ordnungen, die allerdings in einzelnen Punkten auch obrigkeitliches Recht berührten. Hier waren wiederum Verhandlungen mit der Regierung unerläßlich.

Auch in der zweiten Berchtesgadener Landes-Policey von 1667 und den folgenden in die Landrechtsbücher aufgenommenen Verordnungen entdeckt Kissling deutliche Einflüsse landschaftlicher Interessen, wenngleich er auch auf den erkennbaren Charakter dieser Verordnungen als Dokumentationen obrigkeitlicher Machtansprüche hinweist. Enthalten sind hier Regelungen zur Bekämpfung von Bettelei und Raub, zur Verwaltung der Armut, zum Tanzen, Trinken und Spielen sowie zu Religion und Aberglauben, allerdings in engen, der weltlichen Rechtsprechung gesteckten Grenzen, mithin die gewissermaßen "klassischen" Bereiche der obrigkeitlichen Sozialdisziplinierung. Und dennoch scheinen Kisslings Nachweise der Einbeziehung der "Landschaft" in die Gesetzesformulierung stichhaltig, da er bei einigen Themen, etwa der inneren Sicherheit und dem Schutz des Landes vor Vaganten, Aktivitäten der "Landschaft" eindeutig nachweisen kann. Andere Gesetzesinitiativen der Regierung, beispielsweise das Verbot des Perchtenlaufes, schienen die Untertanen nach Aussage der ausgewerteten Schriftquellen völlig kalt gelassen zu haben.

War die Gesetzgebung des 16. und 17. Jahrhunderts also immer ein mehr oder minder friedlich erzieltes und zudem stets auf Beiderseitigkeit ausgerichtetes Verhandlungsergebnis? Peter Kissling stellt diese These konsequent als Leitlinie der gesetzgeberischen Politik in Berchtesgaden dar, auch wenn es nicht immer gelang, dieser Devise zu folgen. Restriktiv ohne Einbeziehung der "Landschaft" durch die Obrigkeit erlassene Verordnungen zählten daneben durchaus zum Instrumentarium der Regierung, wenn es darum ging, Eigeninteressen ohne Zugeständnisse durchzusetzen. Betrafen derartige Gesetze allerdings für die Untertanen relevante Themen, etwa das Verbot der Wilderei oder die Einsetzung eines Abdeckers, so fiel die Durchsetzung der Verordnung ohne die Mitwirkung der "Landschaft" oder gar gegen ihren Widerstand schwer, wenn sie nicht gar unmöglich war.

Mit seiner akribischen Quellenauswertung gelang Peter Kissling durchaus überzeugend der Nachweis, daß die Untertanen Berchtesgadens, die im übrigen bis zum 19. Jahrhundert rechtlich als Leibeigene galten, konstruktiv an der Policeygesetzgebung des Landes mitarbeiteten, "zu des landts wolfaht unnd nothwendigkeit", wie es im Eid der Ausschußmitglieder von 1653 hieß (36). Der in der "Land-" oder "Bürgerschaft" organisierte und durch den Ausschuß vertretene Untenan war demnach nicht allein Objekt obrigkeitlicher Disziplinierungsversuche, sondern agierte mit Einschränkungen auch als Mitverantwortlicher bei der gesetzlichen Regulierung seiner Lebenswelt.

Mit dieser Deutung der Quellenlage greift Peter Kissling ausdrücklich in laufende Diskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaft ein, wobei er insbesondere der umfangreichen (z.T. neuen) regionalhistorischen Literatur über Berchtesgaden in wesentlichen Aspekten widerspricht. Eine solche Zielsetzung führt zwangsläufig hin und wieder zu einer etwas einseitigen argumentativen Sichtweise, die einer engagierten Stellungnahme, wie sie Kisslings Arbeit darstellt, jedoch nicht unbedingt schadet. Die soliden Ergebnisse kommen dementsprechend in erster Linie der traditionellen historischen Forschung, der Regionalgeschichte Berchtesgadens sowie der Rechtshistorie zugute.

Doch auch die Volkskunde sollte Kisslings Arbeit in jedem Fall zur Kenntnis nehmen, wenngleich diesem als Historiker Fragestellungen und Lösungsansätze volkskundlicher Forschung völlig fremd sind. Er schreibt die Geschichte der politischen Mitwirkung der Untertanen Berchtesgadens aus dem Blickwinkel des Historikers als Geschichte von Institutionen und institutionellen Vertretungen, deren unterste Ebene er im "Hausvater" erkennt. Alle anderen Bevölkerungsschichten tauchen in den Quellen und auch in Kisslings Darstellungen nur als Objekte der gesetzlichen Reglementierung auf.

So ist Kisslings Lizentiatsarbeit letztlich eine seriöse Quellenanalyse und ein beachtenswerter Beitrag zu Diskussionen der Geschichtswissenschaft. Der Volkskunde, insbesondere der rechtlichen Volkskunde, kann und sollte die ausgezeichnete Studie Ansatzpunkte zur Weiterarbeit bieten. Es gilt, die zusammengetragenen historischen Ergebnisse um eine dezidiert volkskundliche Sicht zu erweitern.


Siehe auch die Rezension von Achim Landwehr in PERFORM 1 (2000), Nr. 5.

Empfohlene Zitierweise:

Jochen Ramming: Rezension von: Peter Kissling: "Gute Policey" im Berchtesgadener Land. Rechtsentwicklung und Verwaltung zwischen Landschaft und Obrigkeit 1377 bis 1803, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1999, in: INFORM 2 (2001), Nr. 2, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=424>

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