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Rotraud Ries: Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 35), Hannover: Hahn 1994, 614 S., 11 Abb. und 18 Tabellen, ISBN 3-7752-5894-9, DM 98,00

Aus: Württembergisch Franken (Bd. 83 (1999), S. 439-441)

Rezensiert von:
Barbara Löslein

Die vorliegende Dissertation von Rotraut Ries schließt eine Lücke in der Erforschung der Geschichte der Juden in Niedersachsen, die zwischen den Vertreibungen der Pestzeit Mitte des 14. Jahrhunderts und ihrer Neuansiedlung im 17. Jahrhundert klafft. Eingehendere Untersuchungen bezogen sich bisher eher auf die jüdischen Gemeinden des südwestdeutschen Raums, was damit zusammenhängen mag, daß selbst die größeren niedersächsischen Städte (und damit auch deren jüdische Gemeinden) nicht an die Bedeutung süddeutscher Handelsmetropolen heranreichten. Rotraud Ries versteht ihre Arbeit als einen "Versuch, an einem Beispiel regional orientierter Judengeschichte Methoden zu entwickeln, die u. a. für historisch-sozialwissenschaftliche Fragestellungen erst begrenzt auswertbaren Quellen des 15. und 16. Jahrhundert gerecht werden. Ziel ist es, ein Bild vom Leben der Juden entstehen zu lassen".

Da sich schriftliche Zeugnisse der durch mehrfache Vertreibungen immer wieder dezimierten und auch kulturell auf eher niedrigem Niveau stehenden jüdischen Gemeinden selbst offenbar kaum erhalten haben, bilden städtische und staatliche Quellen die Grundlage für die vorliegende Arbeit. In ihnen spiegelt sich jedoch nur ein Teil der jüdischen Lebenswirklichkeit wider. Der gewählte Untersuchungszeitraum fällt in eine für die jüdischen Gemeinden extrem schwierige Phase, die begleitet war von deren allmählicher Deklassierung, der zunehmenden Zersplitterung ihrer Gemeinden und einem wirtschaftlichen Wandel ihres Umfeldes.
Räumlich umfasst die von Ries untersuchte Region Territorien, die heute den südöstlichen Teil des Bundeslandes Niedersachsen bilden: Die Braunschweig-Lüneburgischen Fürstentümer Wolfenbüttel, Calenberg-Göttingen und Grubenhagen, das Stift Hildesheim sowie die Reichsstadt Goslar.

Im ersten Teil der Untersuchung geht die Verfasserin zunächst auf die Entstehung jüdischer Lebensbedingungen und auf diejenigen Prozesse ein, die zur allmählichen Ausgrenzung der Juden führten. Es schließt sich ein lokalgeschichtlicher Teil an, der die wesentlichen Informationen zu allen jüdischen Niederlassungen in den Städten und Gemeinden der Region enthält. Der zweite Teil stellt das Verhältnis von Staat, Kirche und der christlichen Bevölkerung zu den Juden in den Vordergrund und läßt so Rahmenbedingungen jüdischen Lebens deutlich werden. Dies geschieht im vierten Kapitel durch die Untersuchung der besonderen rechtlichen Bedingungen jüdischen Lebens: vorgestellt werden verschiedene Formen des Judenschutzes, den Städte, Territorialherren und das Reich den Juden als Sondergruppe in einer christlichen Gesellschaft gewährten, sowie weitere rechtliche Regelungen und Verfahrenstechniken. Dargestellt sind darüber hinaus besondere Schutzbedingungen im Zusammenhang mit dem städtischen Judenrecht, das Regelungen zum sozialen Leben, zum von Juden häufig betriebenen Pfandleihgeschäft und zum Recht auf Haus- und Grundbesitz enthielt. Konkretisiert wird dies im fünften Kapitel, das an den einzelnen Punkten aufzeigt, wie das Leben der Juden im Rahmen des zuvor aufgezeigten rechtlichen Gefüges geregelt war: wie die Schutzleistungen insbesondere der Städte gegenüber Juden aussahen, welcher Gerichtsbarkeit die Juden unterstanden und wie hier verfahren wurde, welchen allgemeinen und besonderen Abgaben Juden unterlagen. Zur Sprache kommt auch, wie und wo sich Juden ansiedelten, welcher Art die Beziehungen und Konflikte obrigkeitlicher Instanzen in Fragen der Judenpolitik waren und wer überhaupt deren Träger war.

Einer Grunderfahrung jüdischen Lebens dieser Zeit - die der Vertreibung - wird in einem eigenen Abschnitt Rechnung getragen: Ort für Ort sind hier alle Vertreibungen während des 15. und 16. Jahrhunderts aufgeführt. Abgerundet wird dieser zweite Teil der Untersuchung durch weitere vier Kapitel, die zum einen auf die ökonomischen Grundlagen und die soziale Stellung, zum anderen auf die innerjüdische Organisation und auf Einstellungen und Mentalitäten gegenüber Juden eingehen.
Die wirtschaftlichen Grundlagen jüdischen Lebens unterlagen gerade im 15. und 16. Jahrhundert einem Wandel. Waren Juden während des 15. Jahrhunderts noch überwiegend im Bereich des Kleinkreditgewerbes tätig, so wandten sie sich im 16. Jahrhundert dem Handel zu. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts nahm die Armut unter ihnen stark zu. Ihre wirtschaftliche Bedeutung jedoch läßt sich u. a. deshalb nicht exakt einordnen, weil genauere Forschungen über das ökonomische Gefüge dieser Zeit bislang fehlen.
Die gesellschaftliche Stellung der Juden - insbesondere ihr Verhältnis zur christlichen Bevölkerung - stellt sich differenziert dar, freundschaftliche gesellschaftliche und geschäftliche Kontakte lassen sich ebenso nachweisen wie antijüdische Feindseligkeiten. Separat untersucht wird insbesondere die Haltung der reformatorisch-lutherischen Kirche, die seit etwa 1540 im Sinne der Theologie Luthers antijüdisch polemisierte und so deutlich zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen jüdischen Lebens beitrug.

Der Abschnitt über innerjüdische Organisationsformen und Verhaltensmuster ist derjenige, der am ehesten Einblick in das jüdische Leben gibt. Allerdings mangelt es hier wegen der fehlenden Quellen aus den jüdischen Gemeinden an wichtigen Informationen für den wesentlichsten Bereich jüdischen Lebens in Niedersachsen. So bleibt es im Wesentlichen bei einer Ableitung aus bekannten Verhaltensweisen in anderen, besser erforschbaren Regionen. Bestimmte innerjüdische Vorgänge - so beispielsweise Rechtsstreitigkeiten, sofern sie, was häufig der Fall war, vor städtischen Gerichten ausgetragen wurden - lassen sich jedoch auch aus den erhaltenen Quellen erkennen. Zudem ist aus ihnen ablesbar, daß die niedersächsischen jüdischen Gemeinden wohl weder Rabbiner noch Talmudschulen von hohem Niveau hatten.

Zuletzt geht Ries auf Einstellungen und Mentalitäten im politischen und privaten Handeln gegenüber Juden ein. Hier sind die offiziellen herrschaftlichen und kirchlichen Einstellungen aus den entsprechenden Verlautbarungen leichter erkennbar. Private sind für das 15. Jahrhundert kaum vorhanden. Im 16. Jahrhundert jedoch, einer Zeit wachsender wirtschaftlicher Konkurrenz, schlagen sich diese in der Sprache der Quellen nieder und lassen v. a. gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine Tendenz zur Diffamierung der Juden erkennen.

Ries' Arbeit, deren Anhang neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis einen topographischen Index und einen Personenindex sowie ein Abkürzungsverzeichnis enthält, gibt einen differenzierten Einblick in die Bedingungen jüdischen Lebens im Niedersachsen des 15. und 16. Jahrhunderts, und dies trotz schwieriger Quellenbasis und obwohl zur Entstehungszeit der Arbeit vergleichbare Studien über quellenmäßig besser belegte Regionen und grundlegende Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dieser Zeit nicht vorlagen. Das Fehlen innerjüdischer Quellen hat allerdings zur Folge, dass Aussagen über und Einblicke in das jüdische Leben innerhalb der Gemeinde kaum möglich sind und so der Titel des Werks Erwartungen weckt, die so - und dies erwähnt die Verfasserin auch in ihrer Zusammenfassung - nicht erfüllt werden können.

Empfohlene Zitierweise:

Barbara Löslein: Rezension von: Rotraud Ries: Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, Hannover: Hahn 1994, in: INFORM 2 (2001), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=412>

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