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Robert von Friedeburg: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 117), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 643 S., ISBN 3-525-35780-x, DM 78,00

Aus: Nassauische Annalen (Bd. 111 (2000), S. 511-513)

Rezensiert von:
Michael Wettengel

Eine wichtige Arbeit gilt es hier vorzustellen. Die vorliegende Bielefelder Habilitations-Schrift untersucht die Auseinandersetzungen zwischen ländlichen Gemeinden und Obrigkeit in Kurhessen vom 18. bis zum Ende des 19. Jh.s, wobei die Verhältnisse in Baden und Franken vergleichend herangezogen werden. Die Arbeit beruht vor allem auf einer Fallstudie über dreizehn mehrheitlich in der Schwalm gelegenen Ortschaften in der Region zwischen Eder und Werra. Auf breiter Quellenbasis werden die Haushalts- und Betriebsgrößen in diesen Gemeinden sowie wirtschaftliche Lage, Sozialstruktur, Heiratsverhalten und soziale und räumliche Mobilität der Landbevölkerung beleuchtet. Auf der Grundlage der sozialen und rechtlichen Verhältnisse der ländlichen Gesellschaft analysiert der Verf. die Konflikte innerhalb der Gemeinden und zwischen Landgemeinden und der Obrigkeit. Untersucht werden unterschiedliche Formen vor allem des Protests, Beschwerden, rechtliche Auseinandersetzungen und Gesetzesverstöße.

Die besondere Aufmerksamkeit der Studie gilt der Landgemeinde als organisatorisches und sozialisatorisches Zentrum der ländlichen Gesellschaft, dem maßgebliche Bedeutung für die Organisation und politische Sozialisation der Landbewohner zukam. Die Landgemeinde wurde im Untersuchungszeitraum zum Objekt zunehmender Eingriffe der Obrigkeit im Zuge des Ausbaus der Landesherrschaft und der Herausbildung des modernen Staats. Die Auseinandersetzungen der Gemeinden mit der Obrigkeit insbesondere um Dienste, Abgaben und Steuern waren, wie der Verf. zeigt, eng verbunden mit den innerdörflichen Konflikten. Die Abwehrhaltung gegen die Obrigkeit habe dabei eine gemeinsame Interessenlage zwischen Bauern und ländlichen Unterschichten geschaffen und die Grundlage für ein gemeinsames Handeln der Landgemeinde gelegt. Die Konflikte zwischen den Gemeinden und der Herrschaft führten somit zu einer Bündelung der Interessen von Bauern und ländlichen Unterschichten zu einer Melange aus Antietatismus und Sozialprotest. Auf diese Weise sei in einem Lernprozeß aus den Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit eine eigenständige dörfliche Politik entstanden. Es ist das Ziel der Studie nachzuweisen, daß dieser Antietatismus der Landgemeinden zu einem lange Zeit bestimmenden strukturgeschichtlichen Faktor wurde, der Mentalität und politisches Verhalten der Landbevölkerung prägte und noch im 20. Jh. über den Erfolg von politischen Parteien auf dem Lande entschied.

Auch die ländliche Frömmigkeit und das Verhältnis zwischen Gemeinden und Pfarrern war der Studie zufolge eingebunden in die Tradition des Konflikts der Gemeinden mit der Obrigkeit. Die konservative kirchliche Opposition in Kurhessen konnte so zum Bündnispartner der Landgemeinden gegen den Staat werden. Den gemeindlichen Antisemitismus sieht der Verf. ebenfalls als Folge der Auseinandersetzung mit der Landesherrschaft, da die Entstehung des Landjudentums auf die Ansiedlungspolitik der Landesherren seit dem 17. Jh. zurückging. Ausschreitungen gegenüber der jüdischen Minderheit bildeten daher gerade für Angehörige ländlicher Unterschichten eine Möglichkeit zur Artikulation von Protest. Von ihnen wurde auch die neue Organisationsform der Vereine besonders häufig zur Wahrnehmung ihrer Interessen genutzt. Durch den Einzug von Vereinen und Parteien in die ländlichen Gemeinden habe sich daher, wie der Verf. unter anderem am Beispiel der Kriegervereine zeigt, das Gewicht der ländlichen Unterschichten verstärkt. Der gemeindliche Antietatismus erklärt auch das Verhalten der Landgemeinden im Untersuchungsgebiet während der Revolution von 1848/49, das in Hessen durch ein meist geschlossenes Vorgehen gekennzeichnet war. Damit wird auch ein neues Verständnis für die Verbreitung politischer Vereine, Petitionsbewegungen und Formen der Mobilisierung auf dem Lande gefördert, die als eine selektive Rezeption von Rhetorik, Aktions- und Organisationsformen zu verstehen wäre, die letztlich jedoch der alten gemeindlichen Interessenvertretung gegenüber der Obrigkeit diente. Umgekehrt habe der traditionelle Antietatismus und Antisemitismus zur Unterstützung antiliberaler und nationalistischer Parteien und Bewegungen durch die ländliche Bevölkerung zu Beginn des 20. Jh.s geführt.

Diese Ergebnisse der Arbeit sind sicherlich bestechend und in vieler Hinsicht stimmig. Der Verf. blickt gewissermaßen aus frühneuzeitlicher Perspektive auf das 19. Jh. und betont die Elemente der Beharrung gegenüber denen des Wandels. Angesichts der tiefgreifenden Einschnitte, die sich gerade auf dem Lande durch Auswanderung, Agrarreformen, Landflucht und Industrialisierung der Landwirtschaft vollzogen, ist jedoch Skepsis angebracht. Beispielsweise kann die Geschlossenheit der Gemeinden auch auf deren geringe Einwohnerzahl zurückgeführt werden, die eine politische Differenzierung nicht zuließ. So gab es 1848/49 durchaus eine Reihe von Beispielen vor allem größerer hessischer Gemeinden, in denen sich unterschiedliche politische Vereine bildeten und innergemeindliche Konflikte mit politischer Rhetorik ausgetragen wurden. Ob die Konfrontation mit neuen politischen Aktions- und Organisationsformen, Ideologien und politischen Forderungen tatsächlich nicht wenigstens bei Teilen der ländlichen Bevölkerung ein neues Politikverständnis förderte, sondern nur dem traditionellen Gemeindeprotest neue Formen der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit zuführte, muß letztlich offen bleiben. Hier zeigen sich die Grenzen einer Querschnittanalyse. So müßten beispielsweise die Hintergründe für die Entstehung von Petitionen präzise untersucht werden, ob sie vorgedruckte Massenpetitionen waren, in Vereinen formuliert wurden, welche Absichten die Initiatoren damit verbanden oder welche Rolle bürgerliche Beteiligte dabei spielten. Außerdem sind die der Fallstudie zugrunde liegenden Fälle als empirische Basis für weitreichende Aussagen zum politischen Verhalten der ländlichen Bevölkerung nicht ausreichend, und die untersuchten Gebiete Kurhessens sind als evangelische Region und Hochburg der ländlichen Antisemitenbewegung im Kaiserreich nicht repräsentativ für die Verhältnisse in Mittel- und Südwestdeutschland. Das zugrundeliegende Konfliktdreieck Bauern, ländliche Unterschichten, Herrschaft dürfte bei aller Bedeutung der Konflikte innerhalb der Gemeinde und mit der Obrigkeit als universelles Erklärungsmodell für das 19. Jh. sicher nicht ausreichen. So spielte das Verhältnis zu städtischen Zentren - beispielsweise die Nähe zur Stadt, deren Bedeutung als Absatz- oder Arbeitsmarkt für die Gemeinden - eine ganz entscheidende Rolle für die Übernahme politischer Inhalte und für das politische Handeln der ländlichen Bevölkerung. Auch ist zu fragen, ob die dichotomische Gegenüberstellung von Bauern und ländlichen Unterschichten einer ländlichen Gesellschaft gerecht wird, die überwiegend durch klein- und parzellenbäuerliche Betriebe gekennzeichnet war. Das Modell erklärt beispielsweise auch nicht das oft höchst unterschiedliche, mitunter auch gegensätzliche Verhalten ländlicher Gemeinden. So gab es selbst während der Revolution von 1848/49 viele hessische Gemeinden, die auf verschiedene Weise ihre "Loyalität" gegenüber der Obrigkeit zum Ausdruck brachten. Offenbar erlaubte die Interessenlage der ländlichen Gesellschaften ein differenzierteres Handlungsrepertoire, als dies ein "Antietatismus" nahelegt.

Dennoch bleibt festzuhalten, daß die künftige Forschung diese vorzügliche Arbeit zur Kenntnis nehmen muß. Der Verf. schärft den Blick für das Beharrungsvermögen der ländlichen Gesellschaft und relativiert die Kraft des wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Vor allem aber richtet er die Aufmerksamkeit auf die Herrschafts- und Konfliktverhältnisse innerhalb der Gemeinde und zwischen Gemeinde und Obrigkeit, denen in der Tat eine wichtige Bedeutung zukam. Weitere Studien werden die Reichweite dieses Ansatzes überprüfen müssen.

Empfohlene Zitierweise:

Michael Wettengel: Rezension von: Robert von Friedeburg: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, in: INFORM 1 (2000), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=380>

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