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Michael Essig: Europäische Identitätsfindung. Das Reich als europäische Vision (= Historische Texte und Studien; Bd. 20), Hildesheim / Zürich / New York: Olms 1999, 361 S., ISBN 3-487-11046-6, DM 68,00

Aus: Nassauische Annalen (Bd. 111 (2000), S. 495-496)

Rezensiert von:
Konrad Fuchs

Im Anschluß an die einleitenden Darlegungen, in denen E. sich mit Historische(r) Kulturanthropologie, Kulturelle(n) Schlüsselwörter(n) und Identitätsfragen auseinandersetzt, befaßt er sich mit den Kulturelle(n) und geschichtlichen Grundlagen Europas und konzentriert dann seine Ausführungen auf das Heilige Römische Reich als europäischer Kulturraum, womit die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit, die der Begriff "Heiliges Römisches Reich" umfaßt, zum Ausdruck gebracht wird. So wollte bereits Otto der Große ein Imperium bzw. eine Ordnungsmacht inmitten Europas schaffen sowie der Herr der Christenheit und Schützer einer Kirche sein, die einen unmittelbaren Teil des Reiches darstellte. Das Kaisertum als solches wurde mehr und mehr durch das Römische Recht befruchtet und entwickelte sich zu einem realen Herrschaftsgebilde. Eingehend erörtert wird durch den Verf., daß der in Rom zum Kaiser gekrönte Otto I. als Erbe und Nachfahre Karls d. Gr. und damit auch der römischen Kaiser auf das zweite Kaisertum des Abendlandes, auf Byzanz, stieß, woraus Verstrickungen in die damalige "Weltpolitik" resultierten. Wie komplex sich die Situation im 11. Jh. darstellte, wird durch E. folgendermaßen verdeutlicht: (...) das Zentrum der Kultur, die als typisch westlich betrachtet wird, (war) noch hauptsächlich auf das Gebiet des alten karolingischen Reiches beschränkt. Europa bestand aus mehreren Kulturprovinzen, im Süden beherrschte die islamische Kultur Spanien und den Mittelmeerraum, in Nordwesteuropa begannen die nordischen Völker ein Teil der Christenheit zu werden, im Osten stand die byzantinische mit ihrem Einflußbereich bis nach Venedig, Amalfi und Pisa, im Norden waren die slawischen Völker vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee präsent. Mit dem Geschlecht der Ottonen verlor das Reich allmählich seinen fränkisch-sächsischen Charakter und wurde eine universale, europäisch-völkerübergreifende Macht. Im eigentlichen Sinne geschah dies mit Otto III. (980-1002), der die zweifache Überlieferung des christlichen Reichsgedankens in seiner karolingischen und byzantinischen Form vereinte (S. 106).

Eine wichtige Rolle spielt in den Ausführungen die Reichsidee bzw. die Forderung nach einer überstaatlichen Einheit aller christlichen Völker sowie einer durch den Kaiser als Statthalter Gottes zu wahrenden Friedensordnung. Den gedanklichen Inhalt der Reichsidee bildete während des Mittelalters die räumliche Überlegenheit des Deutschen Reiches gegenüber sämtlichen sonstigen Staatenbildungen des Abendlandes, seine übernationale Zusammensetzung und nicht zuletzt seine religiöse und institutionelle Verbindung mit der römischen Kirche. Wiewohl ein universalistischer Anspruch Teil des religiösen Inhalts der Reichsidee war, verfolgte das Reich nur in wenigen Fällen imperialistische Ziele, so unter Heinrich III. und Friedrich II. In der Regel dominierte das Prinzip einer defensiven Ordungsidee, insbesondere seit dem 13. und 14. Jh., als die Reichsidee mit dem nationalen souveränen Staat konfrontiert wurde, der in der Folgezeit dominierend werden sollte. Trotz des Souveränitätsverlusts sowie des politischen Verfalls der Reichsmacht blieb die Reichsidee in Deutschland in der Form des Reichspatriotismus existent.

In den Abschnitten Die Nation als Gegenmodell zum Reich und 'Aufhebung' des Heiligen Römischen Reiches im geistigen Raum Europas unternimmt es der Verf., den Begriff Nation zu analysieren, u.a. durch die Beschäftigung mit Vokabeln wie Sprache, Reich und Kulturnation. In den hier getroffenen Feststellungen wird evident, daß sich nicht nur bis zum Ende des Alten Reiches 1806, sondern auch noch darüber hinaus Elemente der Reichsidee, im wesentlichen auf den großdeutschen Gedanken beschränkt, weiterhin erhielten. Relevant waren sie nicht nur in der durch die Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen Reichsverfassung von 1848/49, sondern auch in den Reichsverfassungen von 1871 und 1919. Die Komplexität der durch den Verf. definierten und analysierten Thematik wird eindrucksvoll deutlich in der Feststellung, daß das Reich nicht Deutschland, daß es kein Staat war, daß es vielmehr angelegt war als Staaten und Nationen verbindendes Gebilde und daß die aufkommenden Machtstaaten dieses Gebilde bekämpft und zerstört haben. Das Reich war nie auf Deutschland begrenzt, sondern immer in seiner Idee auf den größeren europäischen Raum bezogen. Dieses Idearium, das ganze Europa zu erfassen, konnte es allerdings nie verwirklichen, doch es war vorhanden und bildete so etwas wie den Motor der Reichspolitik (S. 308). Durchaus zutreffend stellt E. schließlich fest: Als sich die Deutschen nach 1945 auf Europa konzentriert haben, taten sie dabei im Kern nichts anderes, als einer alten Tradition zu folgen, die in ihrem kollektiven Gedächtnis über etwas mehr als hundert Jahre durch den Nationalstaat überlagert, aber dennoch nicht verschüttet war: Der Wunsch, in der alten Struktur des Reiches, des auf Europa ausgelegten, föderalistischen, in seiner Idealvorstellung die Gesamtheit der europäischen Völker umschließenden Friedensordnung zu leben und zu sein. Das Reich stellte in seiner Konzeption das Modell einer gesamteuropäischen Friedensordnung dar, und die deutsche Bevölkerung, die in dem deutschen Reichsteil lebte, hatte über Jahrhunderte die kollektive Erfahrung gemacht, in ebendieser Friedensordnung des Reiches beheimatet zu sein (S. 309).

Empfohlene Zitierweise:

Konrad Fuchs: Rezension von: Michael Essig: Europäische Identitätsfindung. Das Reich als europäische Vision, Hildesheim / Zürich / New York: Olms 1999, in: INFORM 1 (2000), Nr. 4, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=373>

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