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Gerhard Jaritz (Hg.): Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 7. Oktober 1996 (= Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Diskussionen und Materialien; Bd. 2), Wien: ÖAdW 1997, 126 S., ISBN 3-7001-2692-1, DM 27,00

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 1999, S. 121-122

Rezensiert von:
Peter Schuster

Der vorliegende Band verheißt die Einlösung eines dringenden Forschungsdesiderats. Es hat in meinem eigenen Forschungsfeld, der historischen Kriminalitätsforschung, vor nunmehr schon einigen Jahren Benoit Gamot veranlaßt, den französischen Kollegen vorzuhalten, sie hätten zwar über zwanzig Jahre hinweg Strafurteile gezählt, gewichtet und deren gesellschaftliche Folgen diskutiert, aber den eigentlichen Fragen seien sie ausgewichen, z.B. der Frage, woher wir eigentlich wissen, daß vom Gericht der Stadt Verwiesene tatsächlich die Stadt verlassen haben. Es besteht in der Tat Grund zu solchen Fragen: Aushandlung und Umwandlung von Strafen und Bußen waren in der vormodernen Gesellschaft üblich und werden mittlerweile in ihrem Stellenwert diskutiert. Der vorliegende Band will freilich nicht nur die Abweichung der Praxis von der Norm thematisieren, sondern, wie Gerhard Jaritz einleitend hervorhebt, gleichsam der Logik dieser Abweichungen auf den Grund gehen. Wir müssen davon ausgehen, "daß wir häufig mit einem komplexen Netzwerk von Akzeptanzen, Mißachtungen, Kompromissen, gegenseitigen Beeinflussungen, Korrelationen und Diskussionen konfrontiert werden, welche in der Analyse zu berücksichtigen sind" (18). Nicht alle Autoren haben sich an dieses begrüßenswerte und anspruchsvolle Konzept gehalten und so ist ein Band entstanden, der neben Licht auch Schatten wirft. Gernot Kocher untersucht die Rolle von Realien im Rechtsalltag. Seine beigebrachten Beispiele sind bemerkenswert und werden dahingehend zusammengefaßt, daß sie u.a. dazu dienten, abstrakte Rechtsverhältnisse sichtbar zu machen (z.B. Herrschaftszeichen, Grenzsteine) und die Publizität von Normen im Sinne der Obrigkeit (Glocken, Trompeten) zu unterstützen. Ob Realien in diesem Sinne aber, wie Kocher herausstellt, eine "Normverwirklichungsfunktion" (25) hatten, wird m.E. nicht hinreichend deutlich. Claude Gauvard reflektiert das Tagungsthema in bezug auf den Rechtsalltag in Nordfrankreich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Sie stellt die Frage, aus welchen juristischen Quellen sich richterliche Entscheidungen am Ausgang des Mittelalters speisten und welche Wirkung die ablesbare Strafpraxis hatte. Weder die königlichen "ordonnances" noch die Gewohnheitsrechte (coutumes) oder gar römisches und kanonisches Recht können als Einflußfaktoren definitiv nachgewiesen werden. Die Prinzipien der Rechis-findung scheinen inkohärent, so inkohärent, daß gar völlig unrealistische Bestrafungsphantasien (justice revée) in die Rechtsprechung eindrangen (36 f.). Gauvard erklärt diese Inkohärenz damit, daß im Rechtsalltag die Richter nicht nur von Straftheorien inspiriert waren, sondern zur Vermeidung von Rache die Interessen und Forderungen der Geschädigten berücksichtigen mußten. Rechtsprechung im späten Mittelalter bewegte sich zwischen den Polen Gerechtigkeit und Frieden. Die Auswirkungen der Rechtsprechung auf das Zusammenleben waren maßgebender als jedwede juristische Literatur.

Inwieweit in den Normen das Verhältnis von Norm und Praxis bereits thematisiert wird, ist Gegenstand des Beitrags von Martin Dinges. Ausgehend von der Frage, warum Normen so oft wiederholt wurden, untersucht er in einer Längsschnittanalyse die württembergische Gesetzgebung vom 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Thesenhaft trägt er zahlreiche Gründe zusammen, die möglicherweise etwas präziser hätten gewichtet werden können. Wiederholung von Gesetzen ist nach Dinges nicht nur ein Zeichen für ihre Nichtbefolgung, sondern auch für ihre Anpassung an gewandelte Zeiten etc. Dennoch spiegelt sich auch darin die geringe Evidenz des Konzeptes der Sozialdisziplinierung: Gesetze funktionierten nicht nur deshalb nicht, weil sie nicht befolgt wurden, sondern sie konnten z.T. nicht befolgt werden, weil ihnen jeglicher Praxisbezug fehlte. Erfolgreicher war da, folgt man Helmut Brauer, die Armengesetzgebung seit dem ausgehenden Mittelalter. Die seit dem späten 14. Jahrhundert im Reich nachgewiesene Kennzeichnung 'würdiger' Bettler habe darauf abgezielt, die Bettler zu 'zerteilen' (89). Hier die würdigen, stadtansässigen legitimen Armen, dort die 'starken' Bettler, Müßiggänger und Vaganten. Ersteren wurde mit dem Zeichen ein Zwang zur Konformität auferlegt. Wirtshausbesuche etc. führten zur Aberkennung des Zeichens. Es wurde folglich zum Instrument der Disziplinierung. Diesem Vorgehen, so Bräuer am Ende seiner materialreichen Darlegung, war Erfolg beschieden: "Insofern waren Bettler- und/oder Almosenzeichen und ihr Gebrauch ein Ausdruck von Macht, der sich die Armen zu unterwerfen hatten, und auf dieser Ebene stimmten Norm und Praxis überein." (93) Diesem Argument vermag ich nicht zu folgen. Die Armen haben sich keinesfalls unterworfen. Ziel der Almosengesetzgebung seit der Reformation war es doch, das Betteln in Gänze zu verbieten. Not und Elend schert sich jedoch nicht um derartige Ordnungsvorstellungen, wie uns die dauernde Präsenz von Bettlern in der Frühen Neuzeit zeigt. Den Vorgaben des Herausgebers am weitesten gefolgt ist Katharina Simon-Muscheid mit ihrem Aufsatz über Konflikte von Hauspersonal mit ihren Arbeitgebern. Machtverhältnisse im Haushalt, so einleitend die Autorin, verlaufen nicht in eine Richtung von oben nach unten. Ähnlich wie bei Foucault (aber auch schon bei Max Weber) sind für Simon-Muscheid in Machtverhältnissen Subjekt und Objekt nicht a priori festgelegt. Disziplinierungsbemühungen von oben stehen Widersetzlichkeiten von unten gegenüber. Sie gestalten Pole der Beziehung, die sich, so die zentrale These, vom 13. bis zum 16. Jahrhundert "verhärten" (56). Es wird weiter zu diskutieren sein, ob diese These zutrifft oder ob der ganze Prozeß nicht besser als Verrechtlichung umschrieben werden kann. Konflikte im Haushalt, so zeigt auch die Autorin, wurden aktenkundig vor allem dann, wenn sie öffentlich gemacht und vor Gericht getragen wurden. Auch auf dieser Ebene hat sich mit Sicherheit ein Wandel im behandelten Untersuchungszeitraum vollzogen.

Die beiden letzten Beiträge verlassen den Bereich der Rechtsquellen. Robert Jütte diskutiert, inwieweit die Praxis des verbreiteten Aderlasses in der Frühen Neuzeit den Handreichungen in der medizinischen Literatur entsprach. Er unterstreicht vor allem die Notwendigkeit einer Geschichte der "medikalen Praktik", die bislang über erste Ansätze nicht hinausgekommen ist. Brun McGuire untersucht schießlich die frühe Geschichte der Zisterzienser. Die in der Literatur oft herausgestellte Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit des Ordens bezeichnet der Autor als Herausarbeitung eines künstlichen Gegensatzes. Aufgabe des Generalkapitels im 12. Jahrhundert war es nicht, die klösterliche Wirklichkeit auf das Ideal einzuschwören, sondern den Diskurs zwischen den verschiedenen Niederlassungen des Ordens über die anzustrebende Lebensform zu befördern. Der selbstverwaltete Dialog über Norm und Praxis trat erst seit dem 13. Jahrhundert zurück, als die Kirche begann, in klösterliche Angelegenheiten mehr und mehr normsetzend einzugreifen.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Schuster: Rezension von: Gerhard Jaritz (Hg.): Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 7. Oktober 1996, Wien: ÖAdW 1997, in: INFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=345>

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