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Renate Dürr: Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 13), Frankfurt/M.: Campus 1995, 354 S., ISBN 3-59335389-X, DM 78,00

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 1999

Rezensiert von:
Silke Göttsch

Dem Thema "Gesinde" wird in der Erforschung der Frühen Neuzeit eine eher untergeordnete Bedeutung zugewiesen, dabei spielt gerade diese Gruppe für die Abgrenzung der frühneuzeitlichen "Familie", für die Bestimmung des "Ganzen Hauses" eine zentrale Rolle. Renate Dürr hat in ihrer Dissertation den Versuch unternommen, exemplarisch für eine Stadt, nämlich Schwäbisch Hall, dies aufzuzeigen, nach Ideal und Lebenswirklichkeit von Mägden in der Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts zu fragen. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Es ist ihr sehr gut gelungen, die verschiedenen Ebenen herauszuarbeiten, auf denen dieses Thema angegangen werden muß. Dabei bezieht sie sich vor allem auf zwei Quellengruppen. Anhand von Predigt-, Haus- und Traktatliteratur zeigt sie, daß auch normative und literarische Texte Aufschlüsse über die Lebenswirklichkeit geben können, zumal in ihnen das "Ganze Haus" als soziales Ordnungsgefüge thematisiert wird. Hier wird eine Fülle von Hinweisen gegeben, die die in jüngster Zeit wiederaufgelebte Diskussion um das "Ganze Haus" (Otto Brunner) sachkundig und materialreich unterlegen, da das dem "Ganzen Hause" inhärente Konfliktpotential in der zeitgenössischen Literatur deutlich sichtbar wird. Die zweite, wohl kaum allgemein verbreitete Quellengruppe stellt einen Glücksfall für die historische Forschung dar. Es sind Totenberichte, die in jedem Todesfall von den zuständigen Pfarreien von 1635 bis 1803 zu erstellen waren. Diese Berichte, die nicht wie Leichenpredigten von der Kanzel verlesen wurden, sondern nur innerkirchlich relevant waren, zeichneten, so die plausible Vermutung von Frau Dürr, ein weniger standardisiertes und idealisiertes Bild der Verstorbenen.

Anhand dieses Materials geht Frau Dürr der Bedeutung des Ordnungskonzeptes "Ganzes Haus" nach. Während die literarischen Zeugnisse auf die Funktion und das Konfliktpotential der Norm des "Ganzen Hauses" ausgeweitet werden, werden die Totenberichte quasi aus der lebensweltlichen Perspektive gegengelesen. Der darin reproduzierte Tugendkatalog steht für die Relevanz des "Ganzen Hauses", die Rekonstruktion des biographischen Hintergrundes dient der Profilierung von Konfliktfeldern, die regionale Mobilität verweist auf die Instabilität des "Ganzen Hauses" und das thematisierte "Unzuchtsverhalten" läßt das hinterstehende Ehrkonzept und seine ordnende Funktion sichtbar werden. Durch die Verschränkung der beiden Quellengruppen und ihre systematische und kluge Auswertung entsteht ein Bild, das facettenreich Einblicke in das Leben städtischer Mägde in der Frühen Neuzeit gewährt. Aber darüber hinaus führt die Autorin auch exemplarisch vor, wie eine fundierte Quellenarbeit und theoriegeleitete Auswertung neue Perspektiven eröffnen können. Insofern ist die Arbeit nicht nur wegen ihres Themas, sondern auch aufgrund des methodischen Vorgehens äußerst lesenswert.

Empfohlene Zitierweise:

Silke Göttsch: Rezension von: Renate Dürr: Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 1995, in: INFORM 1 (2000), Nr. 1, URL: <http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=344>

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