sehepunkte 22 (2022), Nr. 9

Hervin Fernández-Aceves: County and Nobility in Norman Italy

In der Geschichte des von Roger II. begründeten Königreichs Sizilien spielt der Adel traditionell entweder die Rolle des widerspenstigen Gegners oder die des willfährigen Befehlsempfängers eines übermächtigen, zentralistisch organisierten Königtums. An dieser Einschätzung hat sich bis in die jüngste Zeit wenig geändert, obwohl die Forschung der zurückliegenden zwanzig Jahre ihr Bild vom normannischen Königtum im Süden teils radikal revidiert hat. [1] Zumal in der deutschen Forschung gilt das Königreich Sizilien als eine grundsätzlich anders konstituierte Ordnung, in der die im Reich nördlich der Alpen gültigen Spielregeln konsensualer Herrschaft außer Kraft gesetzt scheinen. [2]

Vor diesem Hintergrund bietet Hervin Fernández-Aceves mit seiner hier zu besprechenden Dissertation einen vielversprechenden Perspektivwechsel, indem er erstmals monographisch die "agency" der Grafen im Zeitraum von unmittelbar vor Gründung des Königreichs im Jahr 1130 bis zum Tod König Wilhelms II. 1189 in den Blick nimmt. Erfrischend eindeutig wischt der Verfasser die Vorstellung eines straff von oben nach unten durchorganisierten sizilischen Zentralstaats mit Hinweis auf einen "absent monarch, a scattered staff of justiciars, constables and chamberlains, and a mobile court of the king's justice" (3) als Konstrukt einer traditionell verfassungsgeschichtlich orientierten Forschung beiseite. Die tatsächliche Macht in den Provinzen habe der landbesitzende Adel vor Ort ausgeübt. Der Fokus der Untersuchung liegt quellenbedingt auf den festländischen Provinzen, vor allem auf Apulien und der Terra di Lavoro, für die mit dem Catalogus Baronum deutlich mehr prosopographisches Material vorhanden ist als für die übrigen Teile des Königreichs. Immer wieder gibt es Ausblicke auf die anders konstituierten Provinzen Abruzzen (eigene Unterkapitel 22-24; 49-52), Kalabrien und Sizilien.

Die Untersuchung ist im Kern chronologisch aufgebaut. Im ersten Kapitel geht Fernández-Aceves auf die Stellung der festländischen Grafen vor Gründung des Königreichs ein (13-26). Er unterscheidet hierbei zwei Gruppen, eine in "coastal Apulia", die andere in der Terra di Lavoro. Mehr als willkommen ist der Umstand, dass der Verfasser jenseits der 'üblichen Verdächtigen', die dank der zeitgenössischen Historiographie gut greifbar und hinlänglich bekannt sind (z.B. die Grafen von Ariano oder Caiazzo), die Aufmerksamkeit auf weitere nachweisbare Grafschaften lenkt (z.B. Principato im Fürstentum Salerno).

Das zweite Kapitel widmet sich den Konflikten der Jahre 1127 bis 1139 (27-58), in deren Verlauf Roger II. die Rangerhöhung vom Grafen zum König gelang und sein Verhältnis zu seinen vorherigen Peers neu ausgehandelt wurde. Im Ergebnis sei es zu einer grundlegenden Neuorganisation des Festlands gekommen: Mehrere Grafschaften wurden aufgelöst (u.a. Ariano, Caiazzo), andere neu vergeben (Manopello, Conversano, Lesina). Nur in zwei Grafschaften (Principato und Catanzaro) seien die bisherigen Familien an der Macht geblieben. Mit seiner detaillierten Untersuchung (37-49) der zwischen 1140 und 1150 wieder oder neu eingerichteten Grafschaften (ihre Zahl stieg von fünf auf 13) richtet sich Fernández-Aceves vor allem gegen die seit den Forschungen E. Jamisons und E. Cuozzos als Handbuchwissen fortgeschriebene (faktisch so freilich kaum mehr vertretene) These, der König habe 1142 in Silva Marca eine neue Grafschaftsverfassung auf dem Festland durchgesetzt. Demgegenüber zeigt Fernández-Aceves überzeugend die Änderungen dieser Jahre als komplexen und zweifellos nicht auf eine singuläre Entscheidung des Königs reduzierbaren Prozess.

Die beiden Kapitel zu den Grafen unter König Wilhelm I. fokussieren abermals auf Konflikte, ausgelöst nicht zuletzt durch Maßnahmen des königlichen Hofes, die eigentlich der Stabilisierung der Verhältnisse auf dem Festland hätten dienen sollen. Am Beginn steht die Ernennung Roberts II. von Basunvilla, eines Verwandten des Königs, zum Grafen von Loritello im Jahr 1154 (auf Seite 60 als "turning point" in der Entwicklung der süditalienischen Grafschaften hervorgehoben, da erstmals zwei Titel in der Hand eines Adligen vereint wurden; Robert war zuvor bereits Graf von Conversano). Transparent diskutiert Fernández-Aceves die verschiedenen Motive, die in den Quellen für Roberts Aufstand genannt werden, ohne hier einer Sichtweise den Vorzug zu geben.

Das vierte Kapitel (79-104) widmet sich dem Aufstieg Gilberts von Gravina, eines Verwandten der Königin, der über Umwege vom Aufstand des Grafen von Loritello profitierte und zu einer bestimmenden Figur erst unter Wilhelm I. und dann dem minderjährigen Wilhelm II. wurde. Die "agency" der festländischen Grafen in dieser Zeit zeigt sich etwa darin, dass sie sich in einer coniuratio organisierten, um die damalige Dominanz Maios von Bari als Ratgeber des Königs zu brechen (82) - oder am Beispiel Gilberts von Gravina, der als einer von nur zwei Grafen der Aufforderung des Königs nachkam, die coniuratio aufzulösen, und durch Vermittlung der Königin die Huld Wilhelms I. zurückerlangte. Anschließend befehligt er sogar die königliche Armee in Apulien und wurde geradezu zum zweiten, festländischen Machtzentrum innerhalb des Königreichs.

Das fünfte Kapitel (105-132) widmet sich wesentlich der Konkurrenz zwischen dem inzwischen am Hof dominierenden Quaid Petrus sowie dem auf dem Festland übermächtigen Grafen von Gravina. Eindrücklich vollzieht Fernández-Aceves die Schachzüge dieser beiden Konkurrenten und weiterer Akteure nach, um den jeweils eigenen Einfluss auszudehnen. Diese im Einzelnen hier nachzuzeichnen, fehlt der Platz; hingewiesen sei aber darauf, dass dieses Kapitel besonders erkenntnisreich ist, da die Forschung bislang, dem ausführlich erzählenden sog. Hugo Falcandus folgend, vor allem auf die Verhältnisse am Hof fokussiert, demgegenüber aber das Festland eher vernachlässigt hatte. Fernández-Aceves kommt das Verdienst zu, genau diese festländischen Verhältnisse ins Licht gerückt zu haben.

Vergleichsweise nüchtern, von ihrem Ergebnis aber umso beeindruckender sind schließlich die beiden Kapitel für die Zeit Wilhelms II. geraten. Dem dritten Hauteville-König gelang tatsächlich ein langfristiger Konsens mit den Grafen, inklusive der erfolgreichen Reintegration des seit Jahren im Exil lebenden und immer wieder an Aufständen gegen das Königtum beteiligten Robert II. von Loritello (133-166). Die Zahl der Grafen in dieser Zeit war hoch (um 1175 19 auf dem Festland) und blieb stabil. Ein siebtes Kapitel (167-178) behandelt Aspekte wie die Rolle der Grafen im Krieg Wilhelms II. mit dem byzantinischen Reich oder als Richter. Es folgen ein bündiges Fazit und mehrere Appendices (u.a. zur Duana Baronum).

Kritik gibt es, aber nur im Hinblick auf Details: So wurde Graf Gottfried von Andria 1132 nicht exiliert (29), sondern wie andere aufständische Adlige nach Sizilien gebracht, also offensichtlich inhaftiert (Alexander von Telese, ed. De Nava, II, 40, 42). Falco von Benevent verschweigt die Parteinahme Graf Rogers von Ariano für König Roger nicht vollständig (31; jedoch Falco von Benevent, ed. D'Angelo, 1132.16.1; diese Aussage ist sogar besonders aufschlussreich für die Handlungsspielräume Rogers von Ariano, da der Beneventaner Chronist mitteilt, der Graf habe sich Ende 1132 als Gefangener des Fürsten von Capua und des Grafen von Caiazzo sowie consilio amicorum suorum zum Kampf gegen den König verpflichtet, mit anderen Worten: unter äußerem Druck). Die Schlacht von Rignano fand nicht am 2. (34), sondern am 30. Oktober 1137 statt. Nicht mittragen würde ich die Gleichsetzung eines wichtigen Getreuen König Rogers II. namens Robert filius Riccardi (273 ad indicem) mit Graf Robert von Civitate. [3] Zudem ist das Register, für das Benutzer gerade bei einer solchen Arbeit dankbar sein dürften, offenbar nicht ganz vollständig (z.B. bei Andreas von Rupecanina sind mindestens 87, 89, 101 und 112 zu ergänzen).

Derlei Hinweise sind aber tatsächlich Nichtigkeiten im Vergleich zu den grundlegenden Verdiensten der Arbeit, auf die man künftig nicht nur als prosopographisches Handbuch zu den wichtigsten Adligen aus dem Königreich Sizilien im 12. Jahrhundert dankbar zurückgreifen wird. Als differenzierte und problembewusste Synthese bietet sie eine echte Ergänzung zum bisherigen Bild des normannischen Königreichs in Süditalien. Zum Nachdenken regt nicht zuletzt der Befund an, dass das sizilische Königtum unter dem letzten Hauteville eine an Konsens und Ausgleich orientierte Politik verfolgte - mit entsprechendem Erfolg. Gleich mehrfach thematisiert Fernández-Aceves auch für die Zeit davor die Vermittlertätigkeit von Verwandten oder Getreuen des Königs, die einzelnen Grafen die Rückgewinnung der königlichen Huld ermöglichten und wiederholt in einer vollständigen Restitution der früheren Stellung mündeten (56, 89-91).

Der Arbeit ist eine entsprechend breite Rezeption zu wünschen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Jeremy Johns: Arabic Administration in Norman Sicily: The Royal Dīwān, Cambridge 2002; Paul Oldfield: City and Community in Norman Italy, Cambridge 2009.

]2] Theo Broekmann: Rigor iustitiae. Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Süden (1050-1250), Darmstadt 2005.

[3] Markus Krumm: Herrschaftsumbruch und Historiographie. Zeitgeschichtsschreibung als Krisenbewältigung bei Alexander von Telese und Falco von Benevent (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 141), Berlin / Boston 2021, 126 Anm. 71.

Rezension über:

Hervin Fernández-Aceves: County and Nobility in Norman Italy. Aristocratic Agency in the Kingdom of Sicily, 1130-1189, London: Bloomsbury 2020, 277 S., 2 Kt., 6 s/w-Abb., 2 Tbl., ISBN 978-1-3501-3322-8, GBP 85,00

Rezension von:
Markus Krumm
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Markus Krumm: Rezension von: Hervin Fernández-Aceves: County and Nobility in Norman Italy. Aristocratic Agency in the Kingdom of Sicily, 1130-1189, London: Bloomsbury 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/09/35676.html


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