sehepunkte 22 (2022), Nr. 4

Roman Zieglgänsberger / Annegret Hoberg / Matthias Mühling (Hgg.): Lebensmenschen

Sich des Künstlerpaars Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky kunsthistorisch gemeinsam anzunehmen und aus diesem Thema ein großes Ausstellungsprojekt mit begleitendem Katalog zu entwickeln, stellt in mehrfacher Hinsicht ein Wagnis dar. Denn erstens bedürfen Personen und Themen, die mit den Stichworten "Murnau" und "Blauer Reiter" in Verbindung stehen, aus wissenschaftlicher Sicht einer besonders nüchternen Herangehensweise, um unter den Schichten populärer Mythen und Erzählungen der Moderne noch Neues und Relevantes freizulegen. Zum Zweiten gilt das Gesagte in besonderer Weise für die Beschäftigung mit Künstlerpaaren und -freundschaften, deren Existenz durch gefühlige Doppelbiographien oft als schicksalhaft beschrieben wird. Und drittens gibt es wohl keine undankbarere Aufgabe, als gerade dieses Künstlerpaar zu erforschen, da Differenzen zwischen den zu beiden Künstlern Forschenden über Jahrzehnte eine sachliche Gesamtbetrachtung erschwerten.

Diese Differenzen überwunden und erstmals überhaupt seit ihrem Tod Werefkin und Jawlensky in einem Ausstellungsprojekt wieder vereint zu haben, ist das große Verdienst von Roman Zieglgänsberger, der die Idee hierzu hatte. Der Kurator des Wiesbadener Museums und ausgewiesene Jawlensky-Kenner hat gemeinsam mit seiner Kollegin Annegret Hoberg vom Münchner Lenbachhaus Ausstellung und Katalog konzipiert. Ihnen ist es gelungen, das Jawlensky-Archiv, die Fondazione Marianne Werefkin und das Schlossmuseum Murnau für das Vorhaben zu gewinnen. Diese besitzen jeweils bedeutende Teile der Nachlässe der beiden Künstler.

Der Titel "Lebensmenschen" fasst zusammen, was das Thema der insgesamt zehn Aufsätze von acht Autoren im über 300 Seiten starken Katalog ist: Die weitgehend chronologische Darstellung des Zusammenlebens und -wirkens von Jawlensky und Werefkin, von Beginn der Lehrzeit bei Ilja Repin in Russland über die Münchner Jahre ab 1896 bis hin zur gemeinsamen Zeit in der Schweiz, die 1921 mit der endgültigen Trennung des Künstlerpaars endete. Zwei Beiträge beleuchten zudem die darauf folgenden getrennten Lebenswege der beiden in Ascona und Wiesbaden. Auf diese Weise und durch eine den Aufsätzen vorangestellte Doppelbiographie erhält man einen konzisen, den aktuellen Forschungsstand abbildenden Überblick über die fast drei Jahrzehnte ineinander verwobenen Lebensläufe von Werefkin und Jawlensky, der in dieser ausgeglichenen, beide Persönlichkeiten gleichermaßen behandelnden Form bislang nicht vorgelegen hat. Wohltuend ist dabei vor allem, dass die Debatten über Details der Biographien und Zuschreibungen, die in der Vergangenheit in der Forschung mitunter dominierten und teils auf unangenehme Weise in persönlichen Unterstellungen mündeten, fast vollständig ausgelassen bzw. nur in den Fußnoten erwähnt werden.

Zugleich ist der Titel jedoch auch symptomatisch für eine Art des kunsthistorischen Erzählens, deren Probleme der Katalog nicht immer zu lösen weiß. Die starke Betonung des Biographischen, eingebettet in die Darstellung des kulturellen Umfelds und der künstlerischen Netzwerke, lässt die opulente Bebilderung des Katalogs mitunter rein illustrativ erscheinen. Die Werke der beiden Maler werden in den Texten nur am Rande in die Betrachtung mit einbezogen. Problematisch erscheint diese Herangehensweise dann, wenn einzelne Werke allein als Ausdruck des Beziehungslebens von Jawlensky und Werefkin gedeutet und somit psychologisiert werden. Das wird - zumindest in dieser Reduktion - den Werken nicht gerecht. Die nicht selten sehr persönlichen Äußerungen Werefkins und Jawlenskys werden an mehreren Stellen als Belege für diese Form der Bildinterpretation herangezogen, ohne sie mit der notwendigen kritischen Distanz einzuordnen, die Selbstzeugnissen von Künstlern grundsätzlich entgegengebracht werden sollte.

Der Fokus auf Chronologie und Biographie birgt noch ein weiteres Risiko, das sich auch in diesem Katalog zeigt: Die Autoren schildern den gemeinsamen Lebensweg von Beginn an unter dem Vorzeichen der späteren Trennung. Konflikte und Zweifel, die das Zusammenleben von Werefkin und Jawlensky prägten, werden auf diese Weise deterministisch gedeutet.

Im Falle des Lenbachhauses folgt das Projekt auf eine Reihe ähnlich angelegter Ausstellungen und Kataloge zu den Künstlern aus dem Umfeld des Blauen Reiters. Die Beziehungen von Macke und Marc, Klee und Kandinsky sowie Kandinsky und Münter wurden in den vergangenen Jahren jeweils als Keimzellen der Münchner Moderne präsentiert. So berechtigt und populär diese Form des kunsthistorischen Erzählens und Präsentierens auch ist, zeigte gerade doch die wegweisende, ebenfalls im Lenbachhaus gezeigte Münter-Ausstellung 2017/18, welche Vorzüge ein monographischer, auf Werkgruppen fokussierter Ansatz gegenüber jenen Doppelschauen haben kann. Erst durch das Auslassen von Kandinsky und anderen Weggefährten wurde auf diese Weise die Eigenständigkeit von Münters Werk offenbar und der Blick der Forschung geweitet.

Es spricht daher für die Autoren des Lebensmenschen-Katalogs, dass die jeweilige künstlerische Eigenständigkeit von Jawlensky und Werefkin trotz der nacherzählten Doppelbiographie herausgearbeitet wurde. Frühere Ansätze in der Forschung, einen der beiden als intellektuell oder künstlerisch abhängig vom jeweils anderen zu schildern, werden mit Verweis auf die durchaus unterschiedliche Entwicklung des Paars entkräftet. Insbesondere die Ambivalenz von Werefkin, deren Selbstverständnis als Malerin zwischen zeitbedingten Selbstzweifeln bezüglich ihres Geschlechts - sie reflektierte sich selbst aufschlussreich mit Blick auf Frauen- und Männerrollen in der Gesellschaft und im Kunstbetrieb - und großem Selbstbewusstsein changierte, wird überzeugend dargestellt, vor allem im Beitrag von Anna Straetmans.

Für die Forschung zu beiden Künstlern aufschlussreich und neu sind ferner die beiden Beiträge von Jelena Hahl-Fontaine und Laima Laučkaité, in denen wichtige Erkenntnisse aus dem in der Nationalbibliothek von Wilna aufbewahrten Briefwechsel zwischen Jawlensky und Werefkin zusammengefasst werden. Bislang waren diese Briefe nur in litauischer bzw. russischer Sprache publiziert. Wenngleich im Katalog nur Auszüge zitiert werden, so wird auf diese Weise doch ein bedeutendes Quellen-Konvolut erstmals in deutscher Sprache erschlossen.

In der Gesamtschau hat es sich gelohnt, dass die Herausgeber das Wagnis eingegangen sind: Die Kritik an der zu stark auf die Biographien setzenden Darstellung schmälert nicht das bereits erwähnte Verdienst dieses Katalogs, erstmals wieder diese beiden zentralen Gestalten der Moderne zusammen betrachtet zu haben. Ein - nachvollziehbares - Desiderat des Katalogs bleibt dabei die Frage, weshalb es so viele Jahrzehnte brauchte, um das Künstlerpaar gemeinsam zu würdigen. Nachvollziehbar deshalb, weil es vermutlich zu früh gewesen wäre, anhand der Forschungsgeschichte zu beiden Künstlern beispielhaft aufzuzeigen, wie teils sehr persönliche Differenzen zwischen selbsternannten Statthaltern von Künstlern nachhaltig die Rezeption beeinflussen und eine objektive Wissenschaft erschweren können. Diese Aspekte werden hoffentlich in Zukunft aufgearbeitet und wissenschaftlich reflektiert, denn erst durch sie wird manches Narrativ im Kontext dieses Künstlerpaares verständlich. In diesem Sinne ist der Katalog als verheißungsvoller Auftakt zu verstehen, der hoffentlich ein neues Kapitel in der Forschung zu diesen beiden Lebensmenschen aufgeschlagen hat.

Rezension über:

Roman Zieglgänsberger / Annegret Hoberg / Matthias Mühling (Hgg.): Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, München: Prestel 2019, 320 S., 235 Farb-, 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-7913-5933-5, EUR 45,00

Rezension von:
Nikolas Werner Jacobs
Wiesbaden
Empfohlene Zitierweise:
Nikolas Werner Jacobs: Rezension von: Roman Zieglgänsberger / Annegret Hoberg / Matthias Mühling (Hgg.): Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, München: Prestel 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/04/33652.html


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