Rezension über:

Martino Stierli: Montage and the Metropolis. Architecture, Modernity, and the Representation of Space, New Haven / London: Yale University Press 2018, IX + 305 S., 72 Farb-, 85 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-24834-0, USD 60,00
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Rezension von:
Michael Hesse
Institut für Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Hesse: Rezension von: Martino Stierli: Montage and the Metropolis. Architecture, Modernity, and the Representation of Space, New Haven / London: Yale University Press 2018, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/33140.html


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Martino Stierli: Montage and the Metropolis

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Montage wird von Martino Stierli weit gefasst. Montage als Kulturtechnik sei das dominierende Gestaltungsmittel der Moderne für die Darstellung von Architektur, Städtebau, ja Raum überhaupt. Als synthetisches Bildmedium führt die Montage nach Stierli Fragmente anderer Medien zusammen; diese Heterogenität ist eines ihrer Kennzeichen. Die Zusammenführung dissoziierter Elemente kann Sinn generieren, weniger durch den Produzenten als durch Rezipienten, wie es beispielsweise Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne verdeutlicht. Die Montage setzt, ähnlich der spätmittelalterlichen Tafelmalerei, eine wechselperspektivische Darstellung voraus und unterscheidet sich darin von der monokularen, zentralperspektivischen Raumrepräsentation der Neuzeit. Von der neuen Raum-Zeit-Beziehung in der Moderne hat etwa Sigfried Giedion in Space, Time and Architecture (1941) gesprochen. Die Montage weist eine enge Verbindung zu den technisch reproduzierbaren Medien von Fotografie und Film auf. Bevorzugter Ort der Montage nach Themenstellung, Produktion und Rezeption ist die Metropole, die Großstadt der Moderne, deren Wahrnehmungsbedingungen unter anderem Georg Simmel, Walter Benjamin und Manfredo Tafuri beschrieben haben.

Zu vielen Teilaspekten dieses Themas gibt es Studien, schon seit der Theoriebildung der klassischen Moderne und dann wieder mit postmodernem Bewusstseinsstand seit den theoriefreudigen 1980er-Jahren. Stierli weist besonders auf die Beiträge der Architekturhistoriker Benjamin Buchloh und Anthony Vidler, des Architekten und Historikers Jean-Louis Cohen sowie des Historikers und Theoretikers David Deriu hin. Stierli hat nun die in der Fachwelt vermisste Gesamtschau zum Thema Montage vorgelegt. Als Chefkurator für Architektur und Design am Museum of Modern Art in New York und als Hochschullehrer ist er einschlägig bestens ausgewiesen und hat Zugang zu prominenten Quellen.

Stierlis Darstellung umfasst fünf Hauptkapitel. Das erste, die ausführliche Einleitung, behandelt systematische Fragen, nämlich die Begriffsklärung, die Beziehung zwischen Fotomontage und Großstadtwahrnehmung sowie diejenige zwischen Fotomontage und Architekturdarstellung im Allgemeinen.

An Anfang des zweiten Kapitels über Fotomontage und Großstadtdarstellung konfrontiert Stierli die polyfokale mittelalterliche Stadtdarstellung mit der zentralperspektivischen der Neuzeit, die erst mit der Montagetechnik der Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert überwunden wurde. Stierli konzentriert sich besonders auf die Fotomontagen von Paul Citroen, die Bauten verschiedener Zeiten, Funktionen und Stile in einer All-over-Struktur versammeln. Citroen hat die deutsche Avantgarde, etwa Marianne Brandt, George Grosz und Hannah Höch nachhaltig beeinflusst. Vermittler war besonders László Moholy-Nagy mit seinem Bauhausbuch Malerei, Photographie, Film von 1925. Über das Bauhaus und Moholy-Nagy lief die Rezeption durch die sowjetische Faktografie. Für populäre Vorstellungen von der Metropole der Zukunft war allerdings der auf Architekturmontagen beruhende Film Metropolis (1927) von Fritz Lang nach dem Drehbuch von Thea von Harbou mit den Bauten von Erich Kesselhut und Otto Hunte prägend. Citroens Montagen und Langs Großstadtvision beeinflussten wiederum die Wirklichkeitsdarstellung in Walther Ruttmanns Film Berlin - Die Sinfonie der Großstadt von 1927.

Fotomontage als eine Form der Architekturdarstellung behandelt das dritte Kapitel. Sie hat ihre Vorläufer in der retuschierten Fotografie, die vor allem bei der Visualisierung von Projekten sowie bei Gegenüberstellungen von vorher / nachher oder falsch / richtig. Ein wesentliches Gestaltungsmittel wird die Fotomontage in der russischen Avantgarde, in den Architekturbildern von Kasimir Malewitsch oder den Entwürfen El Lissitzkys. Architekturtheorie und Architekturgeschichtsschreibung, so prominent Sigfried Giedion, eignen sich diese Darstellungsweise an, als Äquivalent zum industrialisierten Bauen, zur Verdeutlichung der Baugestalt durch transparentes Übereinanderkopieren von Altbau und Neubauprojekt, als kinematische Narration oder auch zugunsten einer Ästhetik der technischen Reproduzierbarkeit.

Held des vierten Kapitels ist, sozusagen pro domo, Ludwig Mies van der Rohe, der von den frühen Entwürfen bis zur Abstraktion des Spätwerks bearbeitete Fotografien nutzt, um imaginierte Architektur mit dem Bild einer realen Stadt- oder Landschaftssituation zu verbinden. Bei diesen Projektvisualisierungen handelt es sich im Frühwerk tatsächlich um großformatige Fotomontagen (Bismarck-Denkmal, Hochhausentwürfe), im Spätwerk dagegen um Collagen, die wegen ihres Verzichtes auf individuelle Handschriftlichkeit auch von Mies' Studierenden ausgeführt werden konnten. Die Rezeption der Hochhausentwürfe geht jedoch kaum auf den Wettbewerb selbst zurück, sondern auf ihre Verbreitung durch Publikationen und Ausstellungen. Mies' frühe Projekt-Fotomontagen zeigen zudem bereits Analogien zur Montage als kinematischem Konzept im Experimentalfilm der frühen 1920er Jahre.

Was das filmische Montageprinzip angeht, stand Sergei Eisenstein, Mittelpunkt des fünften Kapitels, keineswegs allein in der Avantgarde der 1920er-Jahre. Stierli nimmt gerade Eisensteins Werk näher in den Blick, weil dieser zum einen wie kein anderer Regisseur seiner Zeit die filmische Montage theoretisch reflektiert und Architektur zum Gegenstand seiner Filme gemacht hat. Einzelbauten wie städtische Ensembles sind bei Eisenstein nicht bloßes Filmset, sondern Erzählelemente, Akteure und Bedeutungsträger. Die opulente Eisenstein-Ausstellung des Centre Pompidou Metz (L'Œil extatique, 2019 / 2020) hat ebendies verdeutlicht. Bereits Auguste Choisys berühmte, mit Zeichnungen ausgestattete Analyse der kinematischen Wahrnehmung der Akropolis in Athen (Choisy, Histoire de l'architecture, 1899, 414-415) lässt die künftige wechselseitige Beziehung zwischen Film und Architekturdarstellung ahnen. Stierli verweist dazu auf die sequentielle Vergegenwärtigung von Le Corbusiers Villa Savoye in Poissy durch acht Fotografien, bei deren Betrachtung man sich dem Gebäude in der Imagination nähert und einen inneren Rundgang vollzieht.

Im sechsten und letzten Hauptkapitel geht es um Rem Koolhaas, und zwar um dessen 1978 in Delirious New York formuliertes Großstadtkonzept. Koolhaas beschreibt nach Stierli mit Blick auf New York ein die europäisch-klassischen wie auch die avantgardistischen Vorstellungen von Komposition, Ortsbindung und Architekturikonografie hinter sich lassende, aus gleichen Einheiten nach dem Montageprinzip kombinierte Stadtanlage, wobei das Montageprinzip ebenso für jeden Block gilt. Hinsichtlich der Collage City fällt logischerweise das Stichwort Postmoderne. Die Postmoderne selbst als intellektuelle Montage zu verstehen - soweit geht der Verfasser allerdings nicht.

Martino Stierli hat ein material- und belangreiches Buch vorgelegt. Die vom Titel erweckte Erwartung, eine griffige Gesamtdarstellung der Materie zu finden, löst die Studie allerdings nicht ein. Die einzelnen Kapitel fokussieren jeweils prominente Künstlerpersönlichkeiten wie Paul Citroen, Mies, Eisenstein oder Koolhaas. Um deren Arbeiten zu kontextualisieren, breitet der sehr belesene, problembewusste und theoretisch versierte Autor aber souverän eine Fülle von Material aus. Damit weitet sich bei der Lektüre immer wieder der Blick auf übergeordnete Zusammenhänge. Das Informations- und Anregungspotenzial dieser Publikation ist beträchtlich. Das nachdrücklich zu empfehlende Buch verlangt aber auch Leserinnen und Leser, die bereits über eine solide Orientierung verfügen, um von diesem Angebot profitieren zu können.

Michael Hesse