sehepunkte 21 (2021), Nr. 11

Eugene Smelyansky (ed.): The Intolerant Middle Ages

Aus kulturhistorischer Sicht erweist es sich stets als äußerst wertvoll und notwendig, die Vergangenheit so kritisch wie möglich zu betrachten, d.h. sine ira et studio, mithin Abstand davon zu nehmen, die Werke oder Phänomene zu idealisieren oder zu dämonisieren. So selbstverständlich dies auch klingen mag, lohnt es sich, immer wieder darauf hinzuweisen, denn die Vorurteile gegen das Mittelalter oder andere historische Epochen üben bis heute starke Wirkung aus. Ironischerweise liegen uns heute immer mehr vorzügliche Studien über die verschiedensten Aspekte der Vergangenheit vor, doch zugleich scheint die Ignoranz oder sogar bewusste Fehleinschätzung unablässig zu wachsen, die oftmals dazu dient, moderne ideologische Sichtweisen zu verbreiten. Gerade jüngste politische Prozesse in Europa oder Nordamerika, bei denen in höchst gefährlicher Weise abstruse Vorstellungen von den Wikingern u.a. funktionalisiert werden, um rassistische oder faschistische Wertkonzepte öffentlich zu demonstrieren, haben uns schmerzlich darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die historische Forschung insgesamt gefährdet ist [1].

Wie aber können wir sicher gehen, dass unsere Linsen, mit denen wir unseren Blick auf die Vergangenheit richten, uns ein wahrhaftig objektives Bild vermitteln? Diese Frage kann hier natürlich nicht beantwortet werden, aber ganz sicher ist jedenfalls aus heutiger Sicht, dass wir nicht mehr zu der alten Position von Leopold von Ranke zurückkehren können. Vielleicht sollten wir überhaupt Abstand davon nehmen, nach 'Fakten' zu suchen, oder sogar nach 'Wahrheit', denn wir wissen mittlerweile nur zu gut, dass all unsere Quellen das Resultat von Diskursen gewesen sind, die gemäß der Mehrheitsmeinung (Autoritäten) einen ganz bestimmten Eindruck von individuellen Ereignissen, Personen, Werken oder Texten nahelegen wollten. Natürlich ist damit nicht der kompletten Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, schließlich haben wir gelernt, solide Grundlagen für unsere modernen Erkenntnisse zu schaffen, indem wir insbesondere viele verschiedene Stimmen zu Gehör bringen, womit die Komplexität eines Phänomens besser erfasst werden kann.

Damit komme ich endlich zu dem zu besprechenden Textbuch, wie man es in der anglophonen Welt so nennt, also zu einer Anthologie für ein Universitätsseminar, das sicherlich kompetent von Eugene Smelyansky herausgegeben worden ist, indem thematisch gegliederte Quellen zusammengestellt werden, denen sich stets ein paar sehr knappe und kaum wahrnehmbare Diskussionsfragen anschließen. Sein Anliegen besteht darin, grundsätzlich die Maske der Friedfertigkeit einer vermeintlich glücklichen höfischen Ritterkultur oder der harmonischen Religionswelt im Mittelalter zu zerstören. Das Mittelalter, so schwierig auch die globale Einschätzung sein mag, war keineswegs gewaltfrei oder tolerant; ganz im Gegenteil. Die christliche Kirche bemühte sich z.B. entschieden darum, sich selbst fest zu etablieren und jegliche Gegenstimmen der paganen Kulturen oder von Häretikern auszumerzen. Die Öffentlichkeit bestand immer und überall aus separaten Kommunen, die unablässig in Konkurrenz und Konflikt zu- und miteinander standen oder sich sogar heftigst befeindeten. Man kann also, wie es hier in diesem Buch zunächst recht eindrucksvoll vorgeführt wird, eine Fülle an Gewaltmomenten oder sogar juristischen und politischen Aggressionen entdecken, ob wir an die spätantiken Christenverfolgungen, die anschließenden Verfolgungen von Nichtchristen oder an den mittelalterlichen Anti-Judaismus bzw. Antisemitismus denken, ob wir die Kreuzzüge oder die Angriffe der Araber und später der Ottomanen auf Europa berücksichtigen. Der Alltag war damals ebenfalls stark von Kriminalität, Hass und Aggressionen aller Art bestimmt, und wir dürfen uns daher auf keinen Fall in irgendwelcher Gewissheit wiegen, dass das Mittelalter global gesprochen besser als die Gegenwart gewesen wäre. War es aber deswegen, um sofort das sprichwörtliche Baby mit dem Badewasser auszukippen, wesentlich schlechter, düsterer, primitiver oder sogar barbarischer als unsere moderne westliche Welt?

Die Absicht Smelyanskys besteht darin, eine Fülle an Texten in englischer Übersetzung bereitzustellen, die die folgenden Themenbereiche spiegeln: spätantike Christenverfolgungen, antijüdische Verfolgungen während des gesamten Mittelalters, Häresie und Inquisition, militärische Eroberungen an den Randgebieten Europas, Konflikte zwischen den Religionen und ökonomische Konsequenzen daraus, soziale Randgruppen, Krankheiten und körperliche Behinderungen, Einstellungen zu Frauen und Kontrolle der Sexualität, d. h. besonders der Kampf gegen Homosexualität unter Frauen und Männern und andere sexuelle Abweichungen.

Jedes dieser Themen würde buchfüllend angesprochen werden müssen, und viele davon fallen nicht gerade in die Kategorie von 'Intoleranz', ein Begriff, der eigentlich eher religionshistorisch bestimmt ist. Dass Misogynie ein weit verbreitetes Phänomen war, ist sehr gut bekannt, aber ob es deshalb eine gute Entscheidung war, diesen Aspekt mit aufzunehmen, scheint mir immerhin fraglich. Die verschiedenen Autoren, die hier herangezogen werden, kritisieren u.a. Prostitution, gehen auf die höfische Liebe insgesamt ein (Andreas Capellanus), beschreiben das Ideal einer guten Hausfrau (Le Ménagier de Paris), spiegeln die legalen Probleme einer nicht-zertifizierten Ärztin in Paris, Jacoba Felicie, und definieren das Konzept der Ehe (Bernardino da Siena). Dies ist alles so kunterbunt gemischt und stets so furchtbar kurz gehalten (wohl auf Grund der copyright-Beschränkungen), dass man sich eigentlich die Haare raufen möchte. Andreas Capellanus hatte einen extrem komplexen und widersprüchlichen Liebestraktat verfasst, und Smelyanski wäre gut beraten gewesen, die Finger davon zu lassen, kennt er sich doch offensichtlich im Text selbst wohl gar nicht aus und weiß absolut nichts von der einschlägigen Forschung neueren Datums. Damit besteht die Gefahr, dass Studenten ein äußerst fragmentarisches Bild vermittelt bekommen und am Ende weniger wissen könnten als vorher.

Hier wird alles hineingestopft, was irgendwie mit Gewalt, Krieg oder Feindschaften verbunden werden könnte, und es entsteht somit der deutliche Eindruck, dass hier Beliebigkeit vorherrscht. Zwar muss man dem Herausgeber, der viele der Texte selbst übersetzt hat, durchaus anrechnen, sich redlich darum bemüht zu haben, eine Fülle an Perspektiven zu integrieren, aber selbst das Unterfangen, konsistent das Bild einer intoleranten Welt zu entwerfen, wird nicht durchgängig aufrecht erhalten, erfahren wir ja hier und da von genau der gegenteiligen Einstellung. Die Textauswahl für Häresieverfolgungen will man wohl gerne gelten lassen, während diejenigen, die sich auf verschiedene Kriege oder Kampfansagen gegen Minderheiten beziehen, entweder so diverser Art sind, dass kein vernünftiges Argument darauf aufgebaut werden kann, oder sie praktisch gar nicht in diese Anthologie passen (z.B. die Quellen für Krankheiten und Körperbehinderungen). Der Auszug aus William Langlands Piers Plowman spricht eigentlich z.T. genau das Gegenteil von der hier verfolgten Thematik an, denn Piers formuliert jedenfalls zeitweilig sein tiefes Mitleid mit den Armen und Bettlern, auch wenn er dann diejenigen kritisiert, die Armut nur vortäuschen würden, um ihre Faulheit zu verdecken. Wir geraten somit sehr schnell von einer vermeintlich konzentrierten Quellensammlung zu einer Anthologie, die fast alles und jedes anspricht.

Die Forschung ist schon seit geraumer Zeit viel weiter gelangt und hat enorm dazu gelernt, das Bild vom Mittelalter entscheidend zu differenzieren, egal ob mit Blick auf den Anti-Judaismus oder die Beurteilung von Frauen oder von Armen. Natürlich wurden während der ganzen Epoche viele Kriege geführt, doch dies war weder während der Antike noch während der Neuzeit irgendwie anders. Vielleicht muss man sogar sagen, dass unsere Welt von wesentlich mehr Gewalt und Intoleranz bestimmt ist, als wir es uns selbst eingestehen würden.

Ironischerweise gibt es nun auch Textbücher, die präzise die Gegenrichtung verfolgen, nämlich nachzuweisen versuchen, dass es während des ganzen Mittelalters Duldung und Toleranz gegeben habe. [2] Der Herausgeber von The Intolerant Middle Ages hat wohl selbst gemerkt, auf welch wackeligen Beinen sein Ansatz steht, weist er ja in der Einleitung darauf hin, dass hier sowohl "instances of persecution and violence" als auch "significant episodes of tolerance" vorgestellt werden sollen (xv).

Mit Zustimmung konstatieren wir, dass auch die Randregionen des mittelalterlichen Europas und ebenso die Randfiguren der Gesellschaft einbezogen werden. Mit Stirnrunzeln liest man hingegen, dass "in this collection . . . medieval minorities from a hostile viewpoint" (xvi) betrachtet werden, wenn doch Frauen mindestens 50% der Bevölkerung ausmachten. Das hier erfasste Themenspektrum ist so weit gefasst, dass der Herausgeber selbst zugibt, Schwierigkeiten bei der Organisation gehabt zu haben (xvii). Ebenso problematisch ist die an sich begrüßenswerte Fülle an Texten, aber fast niemals gelingt es Smelyansky, diese adäquat in ihren historischen Kontext einzubetten, die Intentionen der Autoren/Dichter überhaupt nur annähernd zu analysieren (minimale Einführungen) und somit eine solide Struktur aufzubauen, was doch für ein Textbuch dieser Art von zentraler Bedeutung gewesen wäre.

Die Absicht bestand darin, Studenten davon zu überzeugen, dass das Mittelalter grundsätzlich intolerant gewesen sei (xiv). Dadurch, dass der Herausgeber explizit auf die zwei einflussreichen Studien von R. I. Moore (The Formation of a Persecuting Society, 1987) und David Nirenberg (Persecution of Minorities in the Middle Ages, 1996) hinweist und wohl darauf aufbauend seine Quellensammlung erstellte, gibt er zu erkennen, wes Geistes Kind er ist. Dennoch verdient Smelyansky unsere Anerkennung dafür, eine solche große Anzahl von einschlägigen Texten zusammengestellt zu haben, die gut belegen, dass wir die Kultur/geschichte des Mittelalters sehr differenziert betrachten müssen. Die Intention hingegen, mittels dieses Buches den zukünftigen Leser davon zu überzeugen, dass das Mittelalter fundamental intolerant gewesen sei, vermag ich nicht zu akzeptieren. Man darf jene Epoche keineswegs weißwaschen, aber sie so negativ wie hier geschehen über einen Kamm zu scheren, verursacht letztlich mehr Schaden, als Nutzen zu erbringen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu die Einleitung zu Making the Medieval Relevant von Chris Jones, Conor Kostick und Klaus Oschema [2020]; cf. Jan Alexander van Nahl: Half-Remembering and Half-Forgetting? On Turning the Past of Old Norse Studies into a Future of Old Norse Studies, in: Humanities 9/3 (2020) (Special Issue: The Relevance of The Humanities in the Twenty-First Century: Past and Present, ed. by Albrecht Classen, online: https://www.mdpi.com/2076-0787/9/3/97).

[2] Albrecht Classen (ed.): Religious Toleration in the Middle Ages and Early Modern Age: An Anthology of Literary, Theological, and Philosophical Texts, 2020.

Rezension über:

Eugene Smelyansky (ed.): The Intolerant Middle Ages. A Reader (= Readings in Medieval Civilizations and Cultures; XXIII), Toronto: University of Toronto Press 2020, XVIII + 280 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-1-4875-2412-8, USD 39,95

Rezension von:
Albrecht Classen
The University of Arizona, Tucson, AZ
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht Classen: Rezension von: Eugene Smelyansky (ed.): The Intolerant Middle Ages. A Reader, Toronto: University of Toronto Press 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/11/36225.html


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