Rezension über:

Nicolas Badalassi / Jean-Philippe Dumas / Frédéric Bozo et. al. (eds.): Reconstructing Europe 45 years after Yalta. The Charter of Paris (1990), Paris: CTHS 2021, 164 S., ISBN 978-2-7355-0923-2, EUR 22,25
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Rezension von:
Willi Schrenk
Berliner Kolleg Kalter Krieg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Willi Schrenk: Rezension von: Nicolas Badalassi / Jean-Philippe Dumas / Frédéric Bozo et. al. (eds.): Reconstructing Europe 45 years after Yalta. The Charter of Paris (1990), Paris: CTHS 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35597.html


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Nicolas Badalassi / Jean-Philippe Dumas / Frédéric Bozo et. al. (eds.): Reconstructing Europe 45 years after Yalta

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Als Abschluss des Sondergipfels der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 19. bis 21. November 1990 in Paris wurde am 21. November die Charta von Paris für ein neues Europa von den, nach der deutschen Wiedervereinigung nur noch 34, Mitgliedstaaten der KSZE unterzeichnet. Die Charta gilt nach weit verbreiteter Ansicht als zentraler Schlussstein des Ost-West-Konflikts. Die beteiligten Staaten erklärten darin das Zeitalter der Ost-West-Konfrontation für beendet und verpflichteten sich zur Demokratie als einzig legitimer Regierungsform. Anlässlich des 30. Jahrestags dieses Ereignisses widmet sich der hier besprochene Band der Charta von Paris aus der Perspektive des damaligen Gastlandes.

Das von Nicolas Badalassi und Jean-Philippe Dumas unter Mitarbeit von Frédéric Bozo, Pierre Grosser sowie Pauline Cherbonnier erstellte und vom französischen Ministère de l'Europe et des Affaires étrangères sowie dem Comité des Travaux Historiques et Scientifiques herausgegebene Werk hat den Charakter einer offiziellen Jubiläumsschrift. Neben der französischsprachigen Ausgabe erschien daher auch eine - hier vorgestellte - englische Übersetzung.

Inhaltlich gliedert sich der Band in fünf Abschnitte, die Entstehung und Inhalt der Charta von Paris aus unterschiedlichen Gesichtspunkten beleuchten: Auf das, den offiziellen Charakter unterstreichende Grußwort des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian sowie drei wissenschaftliche Aufsätze der Historiker Pierre Grosser, Frédéric Bozo und Nicolas Badalassi folgen eine Reihe von Zeitzeugenberichten, eine Sammlung von Fotos und unveröffentlichte französische diplomatische Dokumente sowie ein Annex, der unter anderem den Text der Charta von Paris beinhaltet.

Im ersten Beitrag "The Charter of Paris and the history of the end of the Cold War" verortet Grosser die Charta von Paris in den verschiedenen Interpretationsansätzen der Geschichtsschreibung über das Ende des Kalten Kriegs. In "Mitterrand's vision and the end of the Cold War" analysiert Bozo prägnant und als Kondensat seiner umfassenden Studien [1] die Perspektiven der französischen Außenpolitik auf ein Ende des Kalten Kriegs seit dem Beginn der Präsidentschaft Mitterrands im Jahr 1981. Abschließend ordnet Badalassi mit dem Aufsatz "The 'Magna Carta of freedom'. The Charter of Paris in the history of the CSCE" das Dokument in die Gesamtgeschichte der KSZE und insbesondere in die Geschichte der Institutionalisierung der KSZE/OSZE ein. Insgesamt bieten die drei Aufsätze eine gut aufeinander abgestimmte Kontextualisierung der Charta von Paris, die einen sinnvollen Rahmen für die folgenden Abschnitte darstellen. Zudem ergänzen diese drei Beiträge die aktuellen geschichtswissenschaftlichen Debatten zum Ende des Kalten Kriegs und des KSZE-Prozesses und schreiben sie substantiell fort.

Der zweite, umfangreichste Abschnitt des Bandes besteht aus insgesamt sieben Zeitzeugeninterviews, die im Rahmen eines seit den 1980er Jahren vom französischen Außenministerium organisierten Archivprojekts im Sommer 2020 von Dumas und Badalassi geführt wurden [2]. Alle Interviewten - sechs Männer und eine Frau, allesamt französische Diplomaten - waren im Präsidialamt bzw. im Quai d'Orsay (dort im Ministerbüro bzw. auf Sachebene) an der Vorbereitung und Durchführung des Pariser KSZE-Gipfels beteiligt. Obwohl in den Interviews jeweils verschiedene Schwerpunkte gesetzt wurden, sind der Einfluss und die Perspektive Mitterrands auf den Gipfel von besonderem Interesse. Dabei ist der umfangreiche Anmerkungsapparat positiv hervorzuheben, in dem Personen und Ereignisse kurz und bündig erläutert werden.

Auf diesen Oral History-Teil folgt im "Illustration Book" eine Reihe von Fotografien, teils farbig, meist schwarz-weiß. Diese Sammlung beinhaltet sowohl Bilder des Pariser Gipfeltreffens als auch von einigen vorhergehenden Konferenzen. Der Bildteil hat in erster Linie eine illustrierende Funktion ohne weiteren erkenntnisvertiefenden Anspruch.

Die im folgenden Teil abgedruckten, bisher unveröffentlichten Dokumente aus den Beständen des französischen Außenministeriums stellen den Kern des Werks dar und verleihen ihm den Charakter einer kleinen Edition. Bei diesen Dokumenten handelt es sich in erster Linie um fünfzehn Berichte der französischen Delegation auf dem Vorbereitungstreffen für das Pariser KSZE-Gipfeltreffen, die im Zeitraum vom 11. Juli bis 17. November 1990 in Wien verfasst wurden. Zudem finden sich vier weitere Dokumente, darunter ein Brief des US-Außenministers James A. Baker an den französischen Außenminister Roland Dumas sowie eine Vorlage für die Rede des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, der die damaligen Europäischen Gemeinschaften auf dem Gipfel vertrat. Die anderen beiden Dokumente betreffen die Verhandlungen bezüglich des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der ebenfalls im Zug des Pariser KSZE-Gipfels am 19. November unterzeichnet wurde, auch wenn diese Verhandlungen streng genommen nur zwischen den NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten geführt wurden. Im Gegensatz zu den Zeitzeugeninterviews wurden diese Archivdokumente kaum kommentiert, obwohl mehr Hilfestellungen hier sinnvoll gewesen wären.

Abgeschlossen wird der Band durch den Geographen Michel Fouchers, der unter anderem als ständiger Berater des Planungsstabs im französischen Außenministerium tätig war. Im Anhang sind zudem das Tagesprogramm des Pariser Treffens, der Text der Charta von Paris mit den faksimilierten Unterschriften der Teilnehmer sowie eine Chronologie des KSZE-Prozesses zwischen 1972 und 1993 abgedruckt.

Insgesamt gelingt es dem Werk durch die Mischung aus Fachaufsätzen, Zeitzeugeninterviews und neuen Archivquellen tatsächlich, dem auf dem Klappentext formulierten Anspruch eines "fresh look" auf die Charta von Paris gerecht zu werden. Wer an der Geschichte der KSZE, dem Ende des Kalten Kriegs und insbesondere der französischen Perspektive auf diese Themen interessiert ist, wird diesen Band lesenswert finden. Auch die englischsprachige Ausgabe muss positiv hervorgehoben werden, da das Material so einer größeren Leserschaft zugänglich ist.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu insbesondere Frédéric Bozo: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l'unification allemande. De Yalta à Maastricht, Paris 2005 (englisch: Mitterrand, the End of the Cold War, and German Unification, New York 2009).

[2] In einem Interview mit dem Leiter der französischen Delegation in Paris, Lucien Champenois, fehlen die Angaben zu Zeit und Interviewende.

Willi Schrenk