sehepunkte 21 (2021), Nr. 6

Clémence Revest (éd.): Discours académiques

Den Reden, die zu besonderen Anlässen an mittelalterlichen Universitäten gehalten wurden, hat die Forschung lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Lücke zu füllen, nimmt sich der von Clémence Revest herausgegebene Sammelband vor. Allerdings ist sie nicht ganz so groß, wie die Herausgeberin konstatiert. So hat sich die deutschsprachige Forschung (insbesondere humanistischen) Universitätsreden in den letzten Jahrzehnten häufiger gewidmet, was den an dem Band Beteiligten jedoch weitgehend verborgen geblieben zu sein scheint. [1]

Die geographischen Schwerpunkte der elf auf Französisch und Italienisch verfassten Beiträge bilden das spätmittelalterliche Italien und Frankreich. Diese Akzentsetzung ist auf der einen Seite pragmatisch sinnvoll, da so größere Linien herausgearbeitet werden können, auf der anderen Seite führt sie jedoch zu einer inhaltlichen Unausgewogenheit. Angedeutet findet sich dies bereits in der Einleitung der Herausgeberin, die zwei Leitlinien des Bandes benennt: Herausgearbeitet werden soll demnach zum einen die soziale Funktion der Universitätsreden, in denen sich Vertreter einer Korporation als Träger universitären Wissens inszeniert und dabei ein Idealbild mittelalterlicher Wissenschaft entworfen hätten, das der Selbstvergewisserung der Gelehrten gedient habe. Damit einhergegangen sei ein hohes Maß an Standardisierung und Typisierung der Reden. Zum anderen wird ein Umbruch in der Tradition der Universitätsrede angenommen, der im Aufkommen des Humanismus begründet sei. Die akademischen Reden hätten seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dazu gedient, humanistische Bildungsvorstellungen in die Universität einzuführen und dazu neue Topoi geschaffen, die von nun an aufgerufen worden seien, um die eigenen Vorstellungen zu verbreiten.

Aus dem von Revest skizzierten Ansatz ergibt sich eine Zweiteilung der Beiträge des Bandes: Die ersten fünf behandeln vorrangig scholastische Reden, die sich in der Struktur zumeist am sermo modernus orientierten, wie er sich im 13. Jahrhundert herausgebildet hatte. Wie Carla Frova am Beispiel juristischer und theologischer Reden aus Italien darlegt, dienten die Ansprachen seit der Entstehung der Universitäten der diskursiven und institutionellen Selbstvergewisserung, der Selbstpräsentation der Gelehrten und der disziplinären Selbstbehauptung in der Konkurrenz der Fakultäten. Auch an französischen Universitäten wurden Reden, so Antoine Destemberg, insbesondere zu feierlichen Anlässen, etwa der Verleihung akademischer Grade, gehalten. Dementsprechend habe es sich in hohem Maße um ritualisierte Aussagehandlungen gehandelt. In epideiktischen Reden seien die Universität als Institution, die jeweilige Disziplin sowie Magister und Kandidaten als ihre Repräsentanten gepriesen worden, wobei ein Wertesystem aufgerufen worden sei, dem sich Redner und Hörer gleichermaßen verpflichtet gefühlt hätten.

Pascale Bermons Beitrag zu Robert Holcot fällt durch den Blick nach England aus dem Rahmen. Untersucht wird eine Ansprache des Dominikaners, die als Einführung in eine Genesisvorlesung fungierte. Auch sie folgt dem Modell des sermo modernus. Auf den Theologen Holcot folgen die Juristen Baldo, Pietro und Angelo degli Ubaldi, deren Disputationen und öffentliche Repetitionen Thomas Woelki untersucht. Obwohl noch scholastisch ausgerichtet, seien diese Ansprachen doch oratorisch wirksam gewesen. Es zeige sich, dass vor allem neu an eine Universität gekommene Professoren die Rede als Mittel genutzt hätten, um sich einzuführen und ihr Prestige zu erhöhen.

Joël Chandelier behandelt Reden, die italienische Mediziner im Laufe des 14. Jahrhunderts zur Eröffnung des akademischen Jahres, als Einleitung in einen Kurs oder bei der Verleihung eines Grades hielten. Hinsichtlich der aufgerufenen Autoritäten wird wie in den übrigen Beiträgen ein hohes Maß von Konformität festgestellt. Daneben seien unterschiedliche Akzentsetzungen der einzelnen Autoren erkennbar, was aber weniger im Originalitätsstreben, sondern in den konkreten Aussageumständen begründet liege. Während Chandelier nur in einem Ausblick die wesentlichen Veränderungen skizziert, die der Humanismus für die Universitätsreden bedeutete, stellt Paolo Rosso sie am Beispiel von Pavia und Turin ins Zentrum seiner Überlegungen. Vor allem die Ansprachen, die anlässlich der Eröffnung des akademischen Jahres gehalten worden seien, seien von humanistischen Ideen durchdrungen gewesen. Diese enthusiastisch zu propagieren, hätte zugleich die Gruppenidentität von Scholaren und Doktoren im Zeichen der studia humanitatis gestärkt. Dass auch Ansprachen von Mendikanten sich im 15. Jahrhundert immer weniger dem humanistischen Einfluss entziehen konnten, zeigt Cécile Caby am Beispiel norditalienischer Studienhäuser. In der Folge habe sich unter den Brüdern eine Elite herausgebildet, deren Angehörige fähig waren, humanistischen Vorstellungen entsprechende Reden zu halten.

Clémence Revest weist anhand von Universitätsreden, die an italienischen Universitäten im 15. Jahrhundert gehalten wurden, nach, dass diese ein Mittel darstellten, um die humanistische Kultur in das System des Selbstlobs gelehrter Eliten des Spätmittelalters zu integrieren, und mehr noch wesentlich dazu beitrugen, die humanistische Bewegung insgesamt zu definieren. Mit zahlreichen Verweisen auf antike Traditionen sei dazu die universitäre Gemeinschaft als Träger von Wissensbeständen beschworen worden, zu denen mit betonter Selbstverständlichkeit auch die studia humanitatis gezählt worden seien. Die humanistischen Ideale seien dabei durch wiederkehrende Begriffe, Ideen und Autoritäten evoziert und genealogisch legitimiert worden. Dass die Standardisierung von Form und Argument mit der Umgestaltung der Universitätsrede unter humanistischen Vorzeichen nicht endete, sondern lediglich die Art und Weise ausgetauscht wurde, legt Luigi Silvano am Beispiel von Ansprachen dar, mit denen Angelo Poliziano und Bonaventura Vulcanius in ihre Vorlesungen über griechische Autoren einführten. Derartige Typisierungen schlossen jedoch individuelle Schwerpunktsetzungen wiederum nicht aus.

Das humanistische Modell dominierte auch im 16. Jahrhundert, wie den Beiträgen von Antoine Vuilleumier und Lucie Claire zu entnehmen ist. Ersterer untersucht zwei französischsprachige Reden, mit denen Loys Le Roy 1576 in seine Demosthenesvorlesung einführte, Letztere nimmt die Einführungsvorlesungen von Marc-Antoine Muret in den Blick, die dieser am Studium Romanum hielt. Dabei zeigt sich, dass die Universitätsrede nach wie vor erlaubte, zeittypische pädagogische Vorstellungen zu artikulieren, neue Ideen wie den Gebrauch der Volkssprache in der Beschäftigung mit der antiken Literatur zu distribuieren und zugleich Praktiken des Lehrens und Lernens zu rechtfertigen und die institutionellen wie diskursiven Aussagebedingungen zu reflektieren. Zumindest Muret sei es jedoch weniger darum gegangen, das Studium insgesamt zu rühmen, vielmehr habe er seine Ansprachen genutzt, um die Bedeutung seines eigenen Wirkens herauszustellen.

Insgesamt bietet der Band viele neue Einsichten zur spätmittelalterlichen Universitätsrede, wenn man sich auch eine systematischere Beschäftigung mit Reden jenseits von Italien und Frankreich gewünscht hätte. Dass der Humanismus auf die Universitätsreden einen beträchtlichen Einfluss hatte, wird plausibel nachgewiesen. Allerdings überrascht dieser Befund nicht. Oratorik war eine humanistische Kernkompetenz, die in Städten, an Höfen wie an Universitäten bereitwillig anerkannt und für die eigenen Zwecke genutzt wurde. Deswegen sollte der Siegeszug des Humanismus in den Universitätsreden nicht gleichgesetzt werden mit einer humanistischen Durchdringung der Universitäten. Grundsätzlich ergibt sich hier für Italien ein anderes Bild als für das nordalpine Europa. Zudem lässt sich an der spätmittelalterlichen Gelehrtenwelt eine Bereitschaft erkennen, humanistische Ideen insbesondere dort aufzunehmen, wo sie wenig Schaden anrichten konnten. So wie scholastische Kommentare seit dem späten 15. Jahrhundert im Druck aus Verkaufsgründen gerne mit humanistischen Gedichten gerahmt wurden, so dürfte die humanistische Neuformatierung der Universitätsrede insbesondere in der Erkenntnis begründet gewesen sein, dass die humanistische Rhetorik die soziale Funktion einer Selbstvergewisserung nach innen und einer Identitätsbildung der universitären Gelehrtenwelt nach außen in höherem Maße zu realisieren vermochte als die scholastische Universitätsrede. Insofern ist in der weiteren Forschung der Blick unbedingt über die Universität hinaus zu öffnen, um humanistische Universitätsreden als eine besondere Ausprägung humanistischer Oratorik zu analysieren, die seit dem 15. Jahrhundert ihren Siegeszug in unterschiedlichen institutionellen Kontexten antrat.


Anmerkung:

[1] Vgl. etwa Albert Schirrmeister: Universitätsreden, in: Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.-16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, hgg. von Jan-Hendryk de Boer / Marian Füssel / Maximilian Schuh, Stuttgart 2018, 559-577; Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012; Jan-Hendryk de Boer: Die Gelehrtenwelt ordnen. Zur Genese des hegemonialen Humanismus, Tübingen 2017, 62-120.

Rezension über:

Clémence Revest (éd.): Discours académiques. L'éloquence solennelle à l’université entre scolastique et humanisme (= Rencontres; 438), Paris: Classiques Garnier 2020, 354 S., ISBN 978-2-406-09694-8, EUR 36,00

Rezension von:
Jan-Hendryk de Boer
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Empfohlene Zitierweise:
Jan-Hendryk de Boer: Rezension von: Clémence Revest (éd.): Discours académiques. L'éloquence solennelle à l’université entre scolastique et humanisme, Paris: Classiques Garnier 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/06/34686.html


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