sehepunkte 21 (2021), Nr. 5

Verena Lehmbrock: Der denkende Landwirt

Die Bedeutung Daniel Albrecht Thaers und seines Konzepts der rationalen Landwirtschaft für die Entwicklung der modernen Landwirtschaftswissenschaft ist unbestritten. Seine Überzeugung, dass sich das Handeln eines Landwirts hauptsächlich am Gewinn - und nicht etwa an einer Maximalproduktion - zu orientieren habe, bildete eine der Grundlagen für die Effizienzsteigerung der Landwirtschaft ab dem 19. Jahrhundert. Die Fokussierung auf den Gewinn ist aber auch gleichzeitig eine der Ursachen für die Konflikte, die sich heute um die Landwirtschaft legen. Die 2016 an der TU Berlin eingereichte Dissertation von Verena Lehmbrock hat also eine aktuelle Komponente. Denn ähnlich wie heute gab es einen breiten gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie eine gute und nachhaltige Landwirtschaft zu funktionieren habe. Auch wenn heute die Landwirte ihre Interessen über Lobbyverbände wesentlich besser artikulieren können, trägt heute wie damals ein städtisches, gebildetes Publikum, das selbst keinen Bezug zur Landwirtschaft hat, Forderungen nach Reformen an den Agrarsektor heran.

Lehmbrock zeigt in ihrer Studie eindrücklich, dass Thaers Wirken eine Vorgeschichte hat und er gleichsam nicht nur am Anfang der Landwirtschaftswissenschaften stand, sondern auch am Ende einer langen und breiten Debatte, die die Forschung unter dem Titel Ökonomische Aufklärung zusammenfasst. Lembrocks an der Schnittstelle von Wissenschafts- und Agrargeschichte angesiedelten Studie nimmt dabei die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Blick, in der sie eine soziale Aufwertung der Landwirtschaft erkennt. Diese sei notwendig gewesen, um die Auseinandersetzung mit landwirtschaftlichen Fragen auch für höher Stände zu einer sozialadäquaten Beschäftigung werden zu lassen. Agrarbesitz galt zwar als Herrschaftsmerkmal, bäuerliche Arbeit hingegen nicht. Die auf die Hebung der Ökonomie zielende Ökonomische Aufklärung musste also sowohl die höheren und gebildeteren Schichten dazu bringen, sich für das Agrarwesen zu interessieren als auch die bereits in ihr Tätigen aufzuklären und für Reformen zu begeistern. Ein wesentliches Merkmal der Schriften der Ökonomischen Aufklärung war, dass Wissenschaftlichkeit und ökonomischer Erfolg zusammengedacht wurden und das zweite nicht ohne das erste zu erreichen sei. Die Autorin interessiert sich dabei vor allem für die Frage, wie zu einer bestimmten Zeit Sinn zugewiesen und artikuliert wurde. Sie möchte also nachvollziehen, wie historisch wissenschaftlichen Konzepte entstanden sind, mithin wie wissenschaftliches Wissen über Landwirtschaft geschaffen und verbreitet wurde. Hierfür zieht sie neben den einschlägigen zeitgenössischen Monographien vor allem Buchbesprechungen und wissenschaftliche Journale wie die "Leipziger Sammlungen" oder die "Oeconomischen Nachrichten" heran.

Lehmbrock zeigt dabei eindrücklich die Verständigungsschwierigkeiten zwischen einem primär auf systematischem Erfassen abzielenden Wissenschaftsverständnis des 18. Jahrhunderts und einem Gegenstand, der sich nur schwer in allzu starre Schemata pressen lässt. Diese Feststellung geht über bekannte Verwendungen pejorativer Begrifflichkeiten hinaus, mit denen die in der Landwirtschaft tätigen Personen bezeichnet worden sind, denn um neues Wissen als wissenschaftlich zu deklarieren, müssen ältere Wissensformen als unwissenschaftlich diskreditiert werden. Beispielhaft steht hierfür die literarische Figur des Sudelwirts, der einer Maschine gleich ohne Verstandestätigkeit immer nur dieselben Handlungen Jahr für Jahr ausführe, im Grunde aber kein Wissen über seinen Gegenstand habe. Die wenigen bäuerlichen Stimmen, die sich am Diskurs beteiligten, verspotteten ihrerseits die gelehrten Federwirte, die keine Erfahrung mit der landwirtschaftlichen Praxis hätten.

Hier liegt eine der Stärken der Studie, die die konstruktivistische Überhöhung des Unterschieds zwischen Theorie und Praxis in der Landwirtschaft abschwächen möchte. Dazu muss Lehmbrock hybride Elemente definieren, die als Brücken zwischen beiden Polen dienen. Am deutlichsten wird dies am Begriff der "Empirie", der eine erhebliche Wandlung durchlief. Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes ist Empirie noch eindeutig negativ besetzt und beschreibt die bäuerliche Praxis, ohne nachzudenken das Bekannte fortzuführen, und war ein von Akademikern verwendeter Begriff, um nicht-akademische Praktiker abzuwerten. Im gleichen Maße, wie das Experimentieren als wissenschaftliche Praxis anerkannt wurde, verlor die Empirie ihre negative Zuschreibung, bis Daniel Albrecht Thaer die Empirie derart aufwertet, dass ohne sie in seinem Verständnis keine erfolgreiche Landwirtschaft beschrieben werden könne. Damit war die Landwirtschaftslehre als Erfahrungswissenschaft etabliert und die soziale Aufwertung abgeschlossen. Bemerkenswert ist zudem, dass dieser Bedeutungswandel nur für den deutschsprachigen Raum greifbar ist. In englischsprachigen Publikationen dominieren Beobachtungen von "gentlemen farmers" die Lehmbrock als "kollektiven Empirismus" zusammenfasst. Die für Deutschland so typischen systematischen Abhandlungen akademisch gebildeter Personen finden sich dort hingegen kaum.

Es konnten nicht annährend alle Aspekte angesprochen werden, die diese dicht geschriebene Studie ebenfalls behandelt, etwa die Institutionalisierung der Landwirtschaftswissenschaften ab 1727 aus den Kameralwissenschaften heraus oder die semantischen Untersuchungen bezüglich der Begriffe, mit denen die in der Landwirtschaft Tätigen bezeichnet wurden. Hier sei als Ergebnis festgehalten, dass sich die Autoren generell nur weniger Begriffe bedienten, um die große Spannbreite der sozioökonomischen Realität vom adligen Gutspächter bis zum Kätner zu beschreiben. Zudem setzte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den Publikationen die sozialinkludierende, ständeübergreifende Figur des Landwirtes durch.

Viele Einzelbefunde und Details sind aus der älteren Forschung bereits bekannt. Die innovative und erhellende Fragestellung der Studie in Verbindung mit der stringenten Anwendung der Methodik ermöglicht jedoch ein vertieftes Verständnis der Prozesse, die dazu führten, die Lehre vom Landbau als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren.

Rezension über:

Verena Lehmbrock: Der denkende Landwirt. Agrarwissen und Aufklärung in Deutschland 1750-1820 (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 50), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 309 S., ISBN 978-3-412-51795-3, EUR 45,00

Rezension von:
Tobias Huff
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Huff: Rezension von: Verena Lehmbrock: Der denkende Landwirt. Agrarwissen und Aufklärung in Deutschland 1750-1820, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/05/34632.html


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