sehepunkte 20 (2020), Nr. 11

Christian Reiß: Der Axolotl

Der Axolotl ist ein globales Labortier, das wegen seiner leichten Handhabung und Fortpflanzungsfreude als Forschungsobjekt ebenso beliebt ist wie wegen seines Zustands der Neotenie. D.h. er ist schon im Larvenstadium geschlechtsreif und man kann einem Axolotl, salopp gesagt, alles abschneiden - und es wächst einfach nach. So ist der Axolotl heute eine große Hoffnung auf etwaige Durchbrüche in der regenerativen Medizin. [1] Gleichzeitig ist dieses Tier in seinem natürlichen Habitat, dem Wassersystem südlich von Mexiko-Stadt, beinahe ausgestorben. Was vermutlich nicht daran liegt, dass es aufgegessen wurde, auch wenn das Grand Dictionnaire Universel du XIXe siècle 1866 das Fleisch des Axolotls als besonders delikat lobte. [2] Erst zwei Jahre vorher, 1864, waren die ersten lebenden Exemplare dieses Tieres nach Europa, genauer gesagt nach Paris, gelangt.

Hier setzt nun Christian Reiß' 2020 erschienenes Buch "Der Axolotl. Ein Labortier im Heimaquarium 1864-1914" an; eine "stark gekürzte und überarbeitete" Version (235) seiner 2014 eingereichten Dissertation. Mit 234 Seiten ist das u.a. 2015 mit dem GWMT-Förderpreis ausgezeichnete Werk recht schlank für eine geschichtswissenschaftliche Doktorarbeit aus Deutschland. Im Vergleich zu manch 500-seitiger Dissertation, die meint, keinen Nebenschauplatz auslassen zu können, ist "Der Axolotl" ein angenehm lesbares Buch mit einem meist überschaubaren Fußnotenapparat.

Ausgehend von den ersten 34 Lebendtieren, die 1864 in Paris ankamen, verfolgt Reiß den Weg des Axolotls durch Europa, wo die Population in sich geschlossen war, bis 1914 die ersten neuen Tiere importiert wurden. Diese Umgrenztheit der Population erlaube "einen einmaligen Einblick in bisher wenig bekannte Aspekte lebenswissenschaftlicher Forschungspraxis" (14) und mache den Axolotl zum ideal-untersuchbaren "Stellvertreter für die ganze Vielfalt an Versuchstieren" (28) der neuen Zoologie. Diese beiden Jahre stecken auch den Untersuchungszeitraum des Buches ab, das nach einem Wechsel von eher rahmenden Teilen und konkreten Fallbeispielen aufgebaut ist. Regional kündigt das Buch zwar an, sich der europäischen Geschichte des Tieres zu widmen, allerdings beschränkt sich die Untersuchung bis auf ein paar Seiten (210-216) auf Deutschland und Frankreich. Letzteres bildet dabei gleichermaßen den Ausgangspunkt für das Buch, wie die Verbreitung der Tiere in Europa.

Diese Spur nun will Reiß aufnehmen, denn indem man der Fährte der Tiere folge, zeige sich die Ausbreitung "einer Tierart und des Wissens über sie in den Wissenschaften des 19. Jhdt." (14) Dies ließe sich vermutlich auch über Publikationen zum Axolotl erreichen, aber der Zugang über das Tier selbst ist deutlich innovativer. Leider verfolgt Reiß in dem kurzen Kapitel, das die Verbreitung in Europa nachvollzieht, dann aber genau wieder nur diese Publikationen (207-220). Wirklich der Spur der Axolotl folgt er dagegen für den französischen und deutschen Raum; wohl, weil "nur wenige Verbreitungswege [...] im Detail nachzuvollziehen" (221) seien. Was auch daran liegen mag, dass die Tiere im Laufe der Zeit so selbstverständlich wurden, dass ihre Herkunft um 1900 nur noch in Ausnahmefällen erwähnt worden sei.

Als Teil kolonialer Akklimatisierungsbestrebungen aus Mexiko gekommen, gelangten die ersten Lebendexemplare zur Société imperiale d'acclimatation, dem neuen "Zentrum für den imperialen Verkehr von naturhistorischen Objekten." (51) Von dort kamen sechs Stück ans Muséum d'Histoire naturelle, zu Auguste Duméril, der in den folgenden Jahren durch seine Züchtungserfolge zur Quelle der europäische Axolotl-Population aufstieg, die sich durch Weitergabe und Tausch ausbreitete. Mit dem Axolotl vollzog sich gleichzeitig der Wandel von der alten Naturgeschichte mit ihren Präparaten zu einer neuen Zoologie, die am lebenden Tier arbeitet, was zu anderen Methoden und Möglichkeiten führte. So beobachtete Duméril die Tiere nicht nur, sondern fing auch nach und nach an, mit ihnen zu experimentieren, um die scheinbar zufällig und willkürlich auftretende "Verwandlung" mancher Axolotl von Wasser- zu Landtieren zu untersuchen. Doch mit den neuen lebenden Untersuchungsobjekten erwuchsen auch Probleme - was fressen sie, wie hält man sie - und der Bedarf nach einer Tierhaltungsinfrastruktur.

Diese künstlichen Naturräume und die neue "Aquarienkunde als Wissenskultur und Praxis zwischen Wissenschaft, Praxis, Unterhaltung, Technik und Ökonomie" (74) beleuchtet Reiß im dritten Kapitel und spätestens hier bekommt man den Eindruck, das Buch ist mit "Der Axolotl" zwar knackig, aber nicht ganz akkurat betitelt. So taucht der Axolotl in einigen Kapiteln kaum oder gar nicht auf. Und insgesamt wirkt es so, als sei das Tier eher der Brückenkopf gewesen, von dem aus in erster Linie die Entstehung einer neuen Zoologie (und deren Nutzung von Aquarien) im 19. Jahrhundert untersucht werden soll. Vieles zur Entstehung der Aquaristik im 19. Jahrhundert und den damit einhergehenden Problemen und Veränderungen führt aber etwa Mareike Vennen [3] umfassender aus und streckenweise wirkt "Der Axolotl" hier wie ein Addendum zu ihrem Buch. Allerdings ergänzt Reiß es um einen Blick auf Deutschland und das Aquarium in der deutschen und französischen Zoologie. Insgesamt folgt er auch der begrüßenswerten Stoßrichtung Vennens und anderer, technische und vermeintlich banale Aspekte der Wissensproduktion ernst zu nehmen und deren tatsächliche Bedeutung herauszuarbeiten. Dies gilt auch für das Thema der Liebhaberei, eine "spezifische Kultur der privaten Tierhaltung", (116) die die Felder Natur, Wissenschaft und bürgerliche Kultur verbindet, und in einem ambivalenten Verhältnis zur "professionellen" Wissenschaft steht, zwischen Konkurrenz und Kooperation.

Der Einfluss der Liebhaberei, bzw. von Techniken und Wissen der Liebhaberei, stellen einen "bisher unberücksichtigten Aspekt in der Frühgeschichte experimenteller Forschung in den Lebenswissenschaften" (120) dar. In Kapitel vier illustriert Reiß dieses Verhältnis am Beispiel der Aquarienkundlerin Marie von Chauvin, die für den Freiburger Evolutionsbiologen August Weismann Experimente am Axolotl durchführte. Dass sie darin erfolgreicher war als Weismann und andere, sei "ein Ergebnis der Anwendung des Aquarienwissens und der Aquarientechnik." (161) Hier wurde nun der Axolotl zum Gegenstand von Evolutionsdebatten, wodurch sich sein "Status in der Wissenschaft" (163) erneut ändere. Vom Präparat zum Lebendtier habe der Axolotl in der frühneuzeitlichen Forschungspraxis bereits eine andere "Seinsweise" [4] (69) angenommen, aber immer sei "das Tier und seine systematische Stellung" (163) zentral gewesen; nun seien "Naturgeschichte und Taxonomie der Art" nur mehr Mittel zum Zweck in der Evolutionsforschung. Der eigentliche Bruch erfolge aber in der Experimentalisierung des Axolotls bei Chauvin.

Die eher praktischen Kenntnisse wie die von Chauvin prägten generell die Einrichtung der künstlichen Naturräume, die gleichzeitig Ergebnis und Voraussetzung der "sich gerade als eigenständige Disziplin formierende(n) Zoologie" (205) und hielten in Form von Wissen aber auch über "Liebhaberzeitschriften" Einzug in die Wissenschaft. Dies zeigt Reiß an vier Beispielen - Kiel, Leipzig, Würzburg und Freiburg -, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Institute entstanden oder alte Sammlungen umstrukturiert wurden. Obwohl hier, wie auch im dritten Kapitel der Axolotl wieder weitgehend verschwindet, ist es ein Glanzlicht des Buches, da Reiß hier die oft getätigte, aber selten beachtete Forderung, Raum als Kategorie der Wissenschaft ernst zu nehmen, erhört und sich konkreten räumlichen Änderungen an den Instituten widmet und sich auf den Spuren etwa von David Livingstone [5] bewegt, der allerdings im Literaturverzeichnis nicht zu finden ist.

Leider fällt dagegen das letzte Kapitel, das eher wie eine Fleißarbeit wirkt, deutlich ab. Reiß folgt nun nicht mehr der Spur der Axolotl selbst, sondern lediglich den Publikationen in Europa (s.o.) auch wenn sich daraus schöne Karten zeichnen lassen. Das Kapitel wirft generell die Frage nach der stets betonten großen Bedeutung des Axolotls auf. Zwar erschienen zwischen 1864 und 1914 in Deutschland und Frankreich über 180 bzw. 100 Publikationen, in England, Italien oder Österreich Ungarn dagegen nur um die zwanzig, von kleineren Ländern nicht zu sprechen, auch wenn der Axolotl überall zu finden war.

Insgesamt ist Reiß ein gut lesbares Buch gelungen, das einen interessanten Einblick in die neue Zoologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem auch ihre technisch-praktischen Aspekte gibt.


Anmerkungen:

[1] https://aeon.co/ideas/consider-the-axolotl-our-great-hope-of-regeneration [17.09.20].

[2] Grand Dictionnaire Universel du XIXe siècle, Paris 1866, 1100.

[3] Mareike Vennen: Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910), Göttingen 2018.

[4] Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt 2017, 323.

[5] David E. Livingstone: Putting Science in its place. Geographies of scientific knowledge, Chicago, IL/ London 2003.

Rezension über:

Christian Reiß: Der Axolotl. Ein Labortier im Heimaquarium 1864-1914, Göttingen: Wallstein 2020, 299 S., 5 Kt., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3306-2, EUR 29,90

Rezension von:
Magnus Altschäfl
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Magnus Altschäfl: Rezension von: Christian Reiß: Der Axolotl. Ein Labortier im Heimaquarium 1864-1914, Göttingen: Wallstein 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/11/34085.html


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