sehepunkte 20 (2020), Nr. 10

Tanja Broser: Der päpstliche Briefstil im 13. Jahrhundert

Eines gleich vorweg: Es ist zu bedauern, dass die Autorin dieser Studie vor Erscheinen jüngerer Beiträge zur historischen Briefforschung aus der Forschung ausgeschieden ist - nicht, weil es ihrerseits ein Mangel wäre, sondern weil sie der weiteren Briefforschung sicherlich wichtige Impulse gegeben hat und geben würde.

Korrespondiert man heutzutage mit Personen in unterschiedlichen beruflichen Kontexten, bemerkt man rasch, dass es auf dem Niveau der Feinheiten unterschiedliche Konventionen gibt, wie man einen 'guten' Brief schreibt - und sei es per E-Mail. Gerade die universitäre Korrespondenz ist häufig Gegenstand von Unterhaltungen geworden. Gleichwohl gibt es aber Vorstellungen, was 'guten' Stil ausmacht. In Übertragung auf das Mittelalter, genauer das 13. Jahrhundert, und auf einen recht präzise umrissenen Untersuchungsgegenstand, die Briefsammlung Papst Clemens IV. (1265-1268), geht Broser dem Stil nach. Wenn auch das Wort 'Stil' im Alltagswortschatz vorkommt und seit langer Zeit 'Stil' ein wiederkehrendes Kriterium bei der Behandlung von Texten ist, so ist doch erstaunlich unklar, was genau darunter zu verstehen ist - und wie man Stil untersuchen sollte (10-11 und 64-88). Vor diesem Hintergrund durchmisst Broser verschiedene Disziplinen und ihre Angebote zur Untersuchung von Stil, darunter natürlich zuvorderst die (mediävistische) Geschichtswissenschaft, aber auch die - v. a. lateinische - Philologie und die Textlinguistik. Hier bemüht sie sich mit Erfolg um zumindest eine Arbeitsmethode für das eigene Corpus, die Epistole et dictamina Clementis pape quarti. Ihre Methode nimmt Elemente aus allen Disziplinen auf, folgt aber sehr stark dem textlinguistischen Ansatz nach Klaus Brinker und Karl Ermert (88-96).

Für Personen, die nicht in der mediävistischen Briefforschung tätig sind, nimmt sich schon der absolute Basisbefund erstaunlich aus: Eine allgemeingültige Definition, was denn ein Brief sei, gibt es bis heute nicht, beziehungsweise: heutige Definitionen basieren auf Faktoren, die eine Frucht der Neuzeit sind, die aber für das Mittelalter kaum anwendbar sind. Wie soll man den Stil von etwas untersuchen, was nicht sicher zu definieren ist? Das löst Broser geschickt und pragmatisch und lässt die mittelalterlichen Definitionen beiseite und betrachtet die Schreiben aus dem Corpus als Briefe, weil sie - mittelalterliche Definitionen von Brief hin oder her - von Zeitgenossen als Briefe betrachtet wurden. Das wird durch ihre umfassende theoretische Umschau erleichtert, da die Textlinguistik einen Brief weniger als präzise definiertes Schriftstück, sondern mehr als Kommunikationsform betrachtet (84).

Bei der Frage nach der grundsätzlichen Definition eines Briefes und nach den Konstituenten des Stils erwartet man geradezu den Rückgriff auf die mittelalterlichen Lehrwerke zum Brief, die Artes dictaminis. Diesen Rückgriff macht Broser häufig und großzügig (22-65 und öfter). Ein zentraler Punkt vieler Artes dictaminis ist der Gruß zu Briefeingang, die Salutatio, die Broser aber außen vor lässt, da die der Arbeit zugrunde liegende Handschrift dieses Briefelement sehr häufig fortlässt (91).

Der weitere Aufbau der Arbeit nach den umfassenden definitorischen und methodischen Überlegungen folgt der stark an die Textlinguistik angelehnten Methode, so dass die Funktionen von Briefen im Fokus stehen. An Hauptfunktionen (81) sieht Broser die Appellfunktion (99-174), die Informationsfunktion (174-202), die Deklarationsfunktion (203-233), die Kontakt- (233-247) und die Obligationsfunktion (247-256). Dabei haben Schreiben mit Deklarationsfunktion die größten Überschneidungen mit der Quellengattung 'Urkunde'. Vor allem dieses Großkapitel dürfte die Autorin gemeint haben, wenn sie in der Einleitung von "einer gewissen Spröde der Darstellung, die aus dem Thema selbst resultiert" (13) spricht.

Methodisch sicher und im Sinne des Aufbaus erfreulich klar werden die meisten dieser Teilkapitel nach einem wiederkehrenden Schema geordnet, wobei immer wieder deutlich wird, dass Gestaltungselemente und Formulierungen stark von dem sowohl sozial als auch hierarchisch zu verstehenden Verhältnis abhängen: Könige werden anders angeschrieben als Kommunen - innerhalb oder außerhalb des Kirchenstaates - oder Geistliche. Da die Salutatio ausdrücklich nicht Teil der Untersuchung ist, sei betont, dass dieser Befund auf dem Stil der Briefe beruht.

Auf diesen umfangreichen Komplex, der den größten Teil der Arbeit ausmacht, folgt der strenger geschichtswissenschaftliche Teil, der sich mit dem Zusammenhang von Situationsdimension und Thema auf die Briefgestaltung (so die Kapitelüberschrift) befasst. In diesem Teil kommt die Autorin zu Erkenntnissen, die vielen Leser*innen leichter zugänglich sein dürften als der vorhergehende sehr stark auf die Sprache fokussierte Teil. Gleichwohl ist dieser Teil im Grunde nicht ohne den vorherigen 'spröden' Teil zu verstehen. En détail rücken hier viele strukturelle Aspekte der brieflichen Kommunikation in den Fokus der Aufmerksamkeit, wie etwa Boten (267-271), das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der mittelalterlichen Kommunikation (274-279). Gewissermaßen als Untergattung des Briefes rückt hier auch die persönliche Korrespondenz in den Mittelpunkt. Diesen Komplex abschließend gibt Broser eine Demonstration, weshalb man sich mit ihrer Methode befassen sollte, wenn man mit Briefen als historischer Quelle arbeitet: Florenz kommt sowohl als Gegenstand wie auch als Korrespondent(en) vergleichsweise häufig vor. Zusätzlich stammen viele Schreiben mit Florenz-Bezug aus einem engen historischen Kontext, so dass hier eine nahezu serielle Auswertungsmöglichkeit besteht. Gerade in diesem Fallbeispiel zeigt die Autorin, wie komplex der Umgang mit Briefen als historische Quelle sein kann oder sollte, dass eine elaborierte rhetorische Gestaltung des Briefes eben nicht (nur) der Emotion, sondern mit Sicherheit der Absicht des Senders und dem Rang des Adressaten geschuldet ist (340f.).

Zwar wird durch die Arbeiten der jüngeren Briefforschung die Quellenkunde zu Briefen aus der Reihe der Typologie des sources gewiss nicht obsolet, aber Broser führt vielfach und gerade in dem Fallbeispiel vor, welches Auswertungspotenzial Briefen immer noch inne wohnt - und welche Fallstricke zu vermeiden sind. [1] Dabei führt sie auch vor, dass Stil ein mindestens sehr schwieriges, vielleicht so gar denkbar ungeeignetes Kriterium ist, um einen Text, der als Brief betrachtet wird, einem Autor zuzuweisen: Ähnlich wie Schreibmeister (nur???) im Spätmittelalter eine Vielzahl von Schriften beherrschten, beherrschten Schreibinstanzen viele unterschiedliche stilistische Register, die von vielen Faktoren abhängig waren, wie etwa dem Stand des Adressaten, der hierarchischen Stellung zueinander und auch dem Gegenstand und der Absicht des Briefes. Und die Spröde der Arbeit? Ich stimme Broser zu, dass sie sicherlich keine Belletristik geschrieben hat, aber die gründliche Auseinandersetzung mit den Texten Clemens' IV. erfreut Leser*innen mit einer Vielzahl von Erkenntnissen über den kurialen Brief des 13. Jahrhunderts. Gleichsam en passant mach die Arbeit auch deutlich, weshalb die mittelalterliche Geschichte mit guten Lateinkenntnissen betrieben werden sollte.


Anmerkung:

[1] Giles Constable: Letters and letter-collections (Typologie des sources du Moyen Âge occidental; 17), Turnhout 1976; vgl. auch Walter Ysebaert: Medieval Letters and Letter Collections as Historical Sources. Methodological Questions, Reflections, and Research Perspectives (Sixth - Fifteenth Centuries), in: Medieval Letters. Between Fiction and Document, ed. by Christian Høgel / Elisabetta Bartoli, Turnhout 2015, 33-62; Marie Isebel Matthews-Schlinzig / Caroline Socha (Hgg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur, Würzburg 2018. Von besonderer Bedeutung Florian Hartmann / Benoît Grévin: Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre (Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 65), Stuttgart 2019, und weitere Arbeiten der zuletzt Genannten.

Rezension über:

Tanja Broser: Der päpstliche Briefstil im 13. Jahrhundert. Eine stilistische Analyse der Epistole et dictamina Clementis pape quarti (= Beihefte zum Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde; Bd. 17), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 406 S., ISBN 978-3-412-51137-1, EUR 60,00

Rezension von:
Andreas Kistner
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kistner: Rezension von: Tanja Broser: Der päpstliche Briefstil im 13. Jahrhundert. Eine stilistische Analyse der Epistole et dictamina Clementis pape quarti, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/10/34729.html


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