STELLUNGNAHME ZUM

Kommentar von Fabian Schulz über Christoph Ulf: Rezension von: Oliver Grote: Die griechischen Phylen. Funktion - Entstehung - Leistungen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.9.2018]

Von Oliver Grote, Regensburg

Schulz scheint davon auszugehen, dass ich in meinem Buch von einer Dichotomie zwischen aristokratischen Strukturen auf der einen und nach Phylen gegliederten Räten auf der anderen Seite gesprochen hätte und davon ausgegangen wäre, dass sich diese Prinzipien gegenseitig ausschließen - nur so erklärt sich seine Betonung der völlig unstrittigen Tatsache, dass trotz Phylenordnung auf Kreta weiterhin "die Besten" gewählt wurden. Ganz im Gegenteil hebe ich ausdrücklich hervor, dass auf Kreta (bzw. hier im Speziellen in Gortyn) nur Adlige die oberen Ämter besetzten (124f.). Die gleichmäßige Verteilung von Ämtern und Gremienmitgliedschaften über Phylen verhinderte zunächst gerade keine adlige Vorherrschaft, sondern ging ganz im Gegenteil von dieser aus und kanalisierte sie: Innerhalb ihrer Phylen waren weiterhin nur den Mitgliedern herausragender Familien die Ämter vorbehalten. Die von Schulz zitierte Passage aus dem abschließenden Kap. 13 (248), die offenbar die irrige Vorstellung eines Gegensatzes zwischen aristokratischen Strukturen und gleichmäßiger Phylenordnung evozierte, ist eingebettet in eine Passage, die nach einer Entwicklung fragt. Implizit steht hier die Frage nach dem funktionalen Unterschied zwischen einem ungeordneten Rat nach homerischem Muster, in dem sich nach askriptiven Kriterien ausgewählte, herausragende Protagonisten einer Gemeinde befanden, und einem (hier nach Phylen) segmentierten Rat, der durch die Bezogenheit seiner Mitglieder auf wie auch immer definierte Segmente einen Rückbezug auf eben diese Teilgemeinden bewirkte - ungeachtet der Tatsache, dass sich auch in den Segmenten herausragende Persönlichkeiten durchsetzten (und nichts anderes impliziert das Ephoros-Zitat). Daher auch meine Schlussfolgerungen zu Gortyn: "All diese Hinweise zeigen, … dass das höchste Amt grundsätzlich nur durch Angehörige adliger Familien besetzt wurde - aus welchem Startos sie auch immer stammen mochten." (125). Oder: "Die postulierte und politisch auch umgesetzte Gleichheit der Phylen schlug sich daher im personellen Bestand nicht nieder: Wie Aristoteles anschaulich beschreibt, konnten Kosmen aus machtpolitisch schwachen Phylen die ihnen zugesprochene Amtsgewalt in der Praxis nicht gegen ambitionierte Adlige aus stärkeren Phylen durchsetzen und mussten es nur zu oft ohnmächtig hinnehmen, aus dem Amt gejagt zu werden." (130).

Meine von Schulz unvollständig wiedergegebene Aussage aus dem Abschlusskapitel (Phylen waren als Verbände "hierarchisch relativ flach", 260) sollte ohnehin nicht auf die Einzeluntersuchung eines Spezialfalls angewandt werden; wie gesagt, zeichne ich in der abschließenden Zusammenschau eine Entwicklung nach, und etwa das Athen-Kapitel ist hier bereits mitzudenken. Zudem bezog sich das Zitat auf den "Phylet[en] als Bürger" (ebd.) im Vergleich zu anderen Phyleten, nicht im Vergleich mit Angehörigen politischer Eliten: Bezugspunkt ist hier die oft künstliche Einteilung in Segmente, die quer zu anderen, hierarchisierenden Strukturen wie dem Oikos, der Familienzugehörigkeit oder der wirtschaftlichen Potenz lag (ebd.). Und in dieser Hinsicht, vor diesem speziellen Hintergrund sind künstliche Segmente eben "hierarchisch relativ flach".

Zu den von Schulz herangezogenen Phylenältesten in Sparta: Hier ging es darum, dass nicht die Eltern selbst, sondern eine übergeordnete, neutrale Instanz, eben jene "Ältesten der Phylen", mit der Entscheidung betraut waren, ob ein Neugeborenes leben sollte oder nicht. Kombiniert werden hier also zwei verschiedene Prinzipien, die unabhängig voneinander zu betrachten sind: (1.) Eine gleichmäßige Gliederung der Bürger nach Phylen und (2.) die Wertschätzung des hohen Altes, das für moralische Integrität und die Emanzipation von rein partikularen Interessen bürgt. Natürlich gab es in den Phylen Eliten auf verschiedensten Feldern, hier eben die Phylenältesten. Diese Phylenältesten hatten eine ganz spezifische Funktion für die ganze Gemeinde, die ein Interesse an möglichst viel Nachwuchs hatte, oft im Gegensatz zu verarmten Familien. Auch in Athen wurden funktional spezifische Ämter, wie im Falle der Strategen teilweise mit sehr hohen Anforderungen, über die Phylen bestimmt. Das steht einer allgemeinen Vorstellung von der Gleichartigkeit der Phylen nicht im Weg: Spricht die Existenz herausragender Strategen, die im militärischen Sektor ihre Phyle vertraten, gegen das Prinzip einer gleichmäßigen Verteilung? An dieser Stelle wird deutlich, dass Schulz eine zentrale These des Buches unterschlägt: Die Funktionalität der Phylen ergab sich gerade aus ihrer Andersartigkeit gegenüber anderen sozialen Strukturen. Natürlich gab es faktische Hierarchien, herausragende Protagonisten auf verschiedensten Feldern; natürlich gab es hier Altersklassen, da wirtschaftliche Ungleichheit, anderswo Vorstellungen von herausragender Geburt usw., aber: Quer zu solchen Hierarchien zu liegen und somit politische Ressourcen gleichmäßig verteilen zu können, ist eine der Leistungen künstlicher Phylengliederungen innerhalb des politischen Raums.

Antworten auf Schulz' resümierender Frage, was denn von gleichgeordneten Segmenten übrig bleibe, "wenn man aus ihnen die Besten wählt", finden sich in meinem Buch übrigens an mehreren Stellen: Die Segmentierung bewirkte "eine Kanalisierung von Konflikten, die nun nicht mehr als Auseinandersetzungen einzelner Individuen (mit ihrer jeweiligen Anhängerschaft), sondern größerer Interessensgemeinschaften auftraten" (45f.); sie fungierten "als Mittel zur Einhegung adliger Machtkämpfe" (Kap. 5.3, 126-130), als "machtpolitische Nivellierung", da die Eliten verschiedener Provenienz an der Machtausübung beteiligt wurden (196) oder als Schritt hin zu einer "Reziprozität der Perspektiven" (248) in der politischen Kommunikation und somit als Versuch, "ohne die Ausprägung echter Zentralinstanzen eine Form von Staatlichkeit hervorzubringen, die sich einen gewissen Grad der Vertrautheit [gemeint ist: in der politischen Kommunikation] erhalten konnte" (251), oder als "als frühe Form politischer Repräsentation" (Kap. 13.1.; 244-251).