sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8

Gabriele Köster / Christina Link / Heiner Lück (Hgg.): Kulturelle Vernetzung in Europa

Es hat sich bewährt, bei ambitionierten wissenschaftlichen Ausstellungen wie der vom September 2019 bis Februar 2020 gezeigten Magdeburger Sonderausstellung "Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas und das Magdeburger Recht" den Ausstellungsmachern einen Wissenschaftlichen Beirat zur Seite zu stellen und im Vorfeld ein Kolloquium zu veranstalten, um den aktuellen Forschungsstand und die geplante Ausstellungskonzeption zu diskutieren. Nicht immer gelingt es, den Tagungsband vor Ausstellungseröffnung tatsächlich vorzulegen, bei dem hier zu besprechenden Band war es erfreulicherweise der Fall. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Ausstellung sind somit bereits vorab und unabhängig davon rezensierbar.

Das Magdeburger Recht ist ein Phänomen mit großer Verbreitung und langer Wirkungsgeschichte, dem die Wissenschaft - insbesondere die Rechtsgeschichte - viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die Wissenschaftsgeschichte namentlich des 20. Jahrhunderts ist aber geprägt von nationalen Perspektiven, teils gesteigert zu kulturchauvinistischer Instrumentalisierung bis 1945. Unter gänzlich neuen Vorzeichen widmete das Kulturhistorische Museum Magdeburg den Stadtrechten schon 2005 eine Tagung unter dem Titel "Magdeburger und Lübecker Recht als Grundlage für das neue Europa".[1] Auf das Magdeburger Recht reduziert, aber im Umfang fast verdoppelt, fand im Oktober 2019 die dem zu besprechenden Band zugrunde liegende Tagung statt. Tagung, Band und Ausstellung stützen sich auf das seit 2004 tätige Langzeitforschungsprojekt "Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas". Der fundamentale Perspektivwechsel des 21. Jahrhunderts tritt in den genannten Titeln deutlich hervor: Die national ausgerichtete Herangehensweise des 20. Jahrhunderts ist einem europäischen, transnationalen Blick und dem Postulat kultureller Verbindungen gewichen. Außerdem ist der Begriff des Magdeburger Rechts durch den umfassenderen Zugriff des "sächsisch-magdeburgischen Rechts" ersetzt worden, der die engen Bezüge zwischen dem im Sachsenspiegel verbreiteten Landrecht und dem Stadtrecht aufnimmt. Diese Verbindung ist auch eine mögliche Erklärung für den überwältigenden Erfolg dieses mittelalterlichen Rechts.

Insgesamt 23 Beiträge sind in dem außergewöhnlich schön und aufwändig gestalteten Band vereinigt. Nach einem kurzen Vorwort und zwei übergreifenden Aufsätzen sind die übrigen Beiträge in sechs unterschiedlich umfangreiche Kapitel gegliedert: "Rechtsräume und Rechtstransfer", "Rechtsaneignung und Rechtsbearbeitung", "Stadtverfassung", "Soziale Gruppen der Stadtgesellschaft", "Bildung und Schriftkultur" und "Stadträume". Schon die Kapitelüberschriften machen den umfassenden Zugriff auf das Thema deutlich, der verschiedene Disziplinen (Rechts-, Sozial-, Kultur- und Kunstgeschichte, Allgemeine Geschichte und Archäologie), Forschungsstrategien und methodische Herangehensweisen zu Wort kommen lässt.

Alle Beiträge können - so viel sei im Vorgriff bereits gesagt - mit Gewinn gelesen, aber leider hier nicht im Einzelnen besprochen werden. Die Auswahl fällt entsprechend schwer, zumal gerade die Vielfältigkeit der Forschungsperspektiven offensichtlich intendiert ist und zu den großen Stärken des Bandes gehört. Die hier getroffene Auswahl berücksichtigt mindestens einen Beitrag aus jedem Kapitel des Buches, bleibt aber in gewisser Weise subjektiv.

Heiner Lück gibt einen Überblick über das Magdeburger Stadtrecht, das fast 1000 Städte in elf heutigen Staaten Ostmitteleuropas rezipiert haben. Dabei betont er die Verbindungen durch dessen Verbreitung und Anwendung. Es sei eine Art "Rechtsverwandtschaft (18) dieser Vielzahl von Städten entstanden. Die Bezeichnung als "Stadtrechtsfamilie" mit Magdeburg als Mutterstadt scheint insofern gerechtfertigt. Erstaunlich ist auch die sehr lange Wirkmächtigkeit vom Ende des 12. bis ins 19. Jahrhundert. Doch sei dieses Phänomen sehr abstrakt und komplex, und die Forschung habe "im Grunde genommen bis heute nicht hinreichend klären können, was die wesentlichen Merkmale des 'Magdeburger Rechts' sind" (19). Das hängt auch, aber nicht nur, mit der Überlieferungslage zusammen: Das Magdeburger Recht ist in tausenden Schöffensprüchen und Kompilationen in Buchform überliefert, eine Urfassung, einen Prototyp gibt es dagegen nicht. Stephan Dusil hinterfragt in seinem Beitrag kritisch die gängigen Fachbegriffe "Stadtrechtsfamilien", "Rechtsräume" und "Verbreitung des Magdeburger Rechts" und plädiert für eine Forschung, die über das Recht hinausschaut. Seiner Meinung nach handelt es sich weniger um eine Rezeption des Rechts - Lück benutzt den Begriff "Transfer", den aber auch Bernd Schneidmüller kritisiert (38) - als vielmehr um eine Translation und die Vernetzung bzw. Verflechtung durch Recht.

Mit Fragen der praktischen Umsetzung befasst sich Wieland Carls Beitrag "Rechtsanfragen und Rechtssprüche. Die Praxis des Rechtsverkehrs mit dem Magdeburger Schöffenstuhl". Ein markantes Merkmal der Magdeburger Stadtverfassung bestand darin, dass ab 1336 das Rats- und das Schöffenkollegium getrennt wurden. Aus den Städten, die mit Magdeburger Recht bewidmet worden waren, wurden häufig Anfragen nach Magdeburg gesandt, die von den dortigen Schöffen gegen Bezahlung auf demselben Pergament beantwortet und zurückgeschickt wurden. Während die Magdeburger Überlieferung verloren ist, haben sich in anderen Städten Urkunden in erstaunlicher Anzahl (zum Beispiel in Breslau über 700, in Görlitz 490, in Liegnitz über 100, in Schweidnitz über 100, davon 82 Originalurkunden) erhalten. Diese Quellen zeichnen in ihren Klagegegenständen ein faszinierendes, realitätsnahes Bild des Mittelalters. Anfragen und Antworten wurden auch zur Grundlage von Kompilationen. Carls veranschaulicht so die lebendigen Verbindungen, die rege Kommunikation im Verbreitungsgebiet des Magdeburger Rechts. Bernd Kannowski widmet seinen Beitrag der Buch'schen Glosse, einer Kommentierung zum Sachsenspiegel von 1325. Diese erfuhr eine weite Verbreitung und wurde von Stadträten und Ratsherren zum Beispiel für Braunschweig, Leipzig, Werne, Bremen, Grimma, Quakenbrück und Brandenburg in Auftrag gegeben. Noch heute sind 78 vollständige Handschriften und eine dreistellige Zahl an Fragmenten erhalten. Christoph Zobel gab 1535 die Druckausgabe heraus, die fünf Auflagen erfuhr und zu einem Handbuch für alle Juristen avancierte. Gerhard Dilcher stellt unter dem Titel "Die kommunale Stadtverfassung des Mittelalters als europäisches Modell" die Bedeutung der Städte im Prozess der "Gewaltminderung und Verrechtlichung in den mittelalterlichen Gesellschaften" (226) heraus.

Stadtgründungen waren Teil einer gezielten fürstlichen Entwicklungspolitik für friedliche Konfliktlösungen durch Verrechtlichung, wirtschaftliche Prosperität, einen integrierend wirkenden Freiheitsraum und einen Prozess der Rationalisierung durch Objektivierung, Normativität und Schriftlichkeit. Die große Bedeutung Magdeburgs bis ins ferne Litauen verdeutlicht Jolantas Karpavičienes Aufsatz über stadtbürgerliche Identität. Im Großfürstentum Litauen wurden mehr als 40 mittlere und größere Städte bis Mitte des 16. Jahrhundert mit Magdeburger Recht privilegiert, das dort als das Stadtrecht schlechthin galt. Die Institutionen der Selbstverwaltung wurden häufig "magdeburgische Behörden" oder "Magdeburien" bzw. "Majdeburien" genannt. Vilnius, Kaunas und Trakai sind Beispiele für Schauplätze ethnokonfessioneller Heterogenität, die auch bei der Auswahl von Ratsherren und Bürgermeistern berücksichtigt wurde, die je zur Hälfte mit katholischen Litauern und orthodoxen Ruthenen besetzt wurden. Die stadtbürgerliche Identität in Litauen ist eng mit Magdeburg verbunden. So hat zum 400-jährigen Jubiläum der Verleihung des Magdeburger Rechts an Jurbarkas (Georgenburg) die dortige Stadtgemeinde im Jahr 2011 ein Denkmal errichtet, welches das Magdeburger Recht als einen Freiheitsengel zeigt.

Die Stadt Lemberg als ein "ethnisches Mosaik" stellt Jürgen Heyde in seinem Beitrag über Armenier in Lemberg und Krakau vor. Schon im Lokationsprivileg Lembergs von 1356 werden ausdrücklich "gentes" genannt: Armenier, Juden, Sarazenen, Ruthenen. In der ummauerten Stadt befanden sich zwar vier verschiedene ethnische Quartiere, aber es gab eine soziale Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Gruppen. Der Beitrag liefert somit "Einblicke in die Entwicklung einer spätmittelalterlichen Migrationsgesellschaft" (297). Zur Schriftkultur ist insbesondere der Beitrag von Christian Speer "Stadtbücher im Magdeburger Rechtskreis. Die Anfänge neuer Formen pragmatischer Schriftlichkeit im 13. und 14. Jahrhundert" hervorzuheben. Stadtbücher sind in der Regel Reinschriften, während die alltägliche Schriftlichkeit auf Wachstafeln erfolgte, die teils auch zu Büchern zusammengebunden wurden. Vorangetrieben wurde diese schriftgestützte Verwaltungspraxis durch die hohe Zahl von Immobilien- und Erbschaftsangelegenheiten. Neue Erkenntnisse zur Stadtwüstung Alt-Wartenburg (Barczewko) stellen Felix Biermann, Christofer Herrmann und Arkadiusz Koperkiewicz vor. Die Stadt wurde zu Kulmer Recht kurz nach 1325 gegründet, durch einen kriegerischen Einfall von Litauern aber bereits 1354 zerstört und an einem anderen Ort wiederaufgebaut. So hat sich der "Zustand der ersten Generation unberührt in der Erde" (403) erhalten. Noch sind die Grabungen nicht abgeschlossen, doch zeugen der ergrabene Marktplatz, das Kaufhaus und 25 Kellergruben samt Keramik, Trachten, handwerklichen und landwirtschaftlichen Geräten, aber auch eine Tuchplombe aus Tournai, in detaillierter Weise von den Stadtgründungsprozessen im Preußenland. Mehrere Beiträge sind schließlich der "Mutterstadt" des Magdeburger Rechts gewidmet, wobei Claus-Peter Hasses "Rathaus, Reiter, Roland und Hirsch als Rechtsdenkmäler. Zum Selbstverständnis der Stadt Magdeburg im Mittelalter" die nur in Resten erhaltene Gestaltung des städtischen Zentrums erhellt.

Der Tagungsband vertieft das Verständnis des Kulturphänomens sächsisch-magdeburgisches Recht, das zunächst sehr abstrakt und komplex erscheint, in umfassender Weise um viele konkrete und faszinierende Facetten. Es entsteht ein thematisch und disziplinär breit gefächertes Panorama. Dieses ergibt eine sehr gute Grundlage für die Ausstellung, deren nicht leichte Aufgabe es sein wird, mithilfe von Objekten die Themen zu veranschaulichen. Doch eines wird bereits durch den Tagungsband deutlich: Die Beschäftigung mit dem Magdeburger Recht ergibt geradezu einen Gegenentwurf zum vermeintlichen, aber in der öffentlichen Wahrnehmung unaufhörlich bemühten Bild vom finsteren Mittelalter.


Anmerkung:

[1] Zwölf Beiträge wurden 2009 in Buchform vorgelegt: Heiner Lück / Matthias Puhle u.a. (Hgg.): Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln u. a. 2009.

Rezension über:

Gabriele Köster / Christina Link / Heiner Lück (Hgg.): Kulturelle Vernetzung in Europa. Das Magdeburger Recht und seine Städte. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung "Faszination Stadt", Dresden: Sandstein Verlag 2018, 520 S., ISBN 978-3-95498-452-7, EUR 48,00

Rezension von:
Anja Rasche
Speyer
Empfohlene Zitierweise:
Anja Rasche: Rezension von: Gabriele Köster / Christina Link / Heiner Lück (Hgg.): Kulturelle Vernetzung in Europa. Das Magdeburger Recht und seine Städte. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung "Faszination Stadt", Dresden: Sandstein Verlag 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/07/34612.html


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