sehepunkte 20 (2020), Nr. 3

William Tullett: Smell in Eighteenth-Century England

2015 beobachtete Hans J. Rindisbacher, dass geisteswissenschaftliche Texte zu Gerüchen fast durchweg mit einer mittlerweile völlig obsoleten Standardeinleitung begännen. Mit großer Geste werde nämlich von fast sämtlichen Geruchsgeschichten auf das Fehlen von Studien zum Geruchssinn als dem "mysteriösesten" Sinn des Menschen hingewiesen. Dies träfe jedoch längst nicht mehr zu. [1]

Rindisbacher hatte zugleich Recht und Unrecht. Zwar liegen mittlerweile in der Tat eine Vielzahl von Publikationen zum Riechen und zu Gerüchen vor [2] - eine Auswirkung des in vollem Gange befindlichen sensual turn. Und dennoch kratzt das Forschungsfeld nach wie vor an der Oberfläche eines Eisberges, dessen Tiefen und vielfältige historiografische Potentiale erst allmählich ausgelotet werden. Diesen Eindruck vermittelt auch die Lektüre von William Tulletts "Smell in Eighteenth-Century England. A Social Sense".

Auffällig sind zunächst die zumal für eine Dissertation enorme Bandbreite der behandelten Themen und der lange Zeitraum der Untersuchung von 1660 bis 1830. Bereits dieser Zuschnitt führt sowohl die enormen Potentiale wie auch die aktuelle Problemlage der Geruchsgeschichte vor Augen: Während die Erforschung des Riechens für zahlreiche aktuelle Forschungsfelder noch weitgehend unausgeschöpfte Möglichkeiten bereithält, fehlen gleichzeitig die Grundlagen für eine vertiefte Erforschung von Einzelaspekten.

Und genau hier liegen auch der Charme von Tulletts beeindruckender Monografie wie deren Schwierigkeiten: Das größte Verdienst des Buches ist es, eine überzeugende geruchshistorische Methodik zu entwickeln und auf dieser Grundlage zahlreiche zum Teil hoch spannende und innovative Thesen aufzuwerfen. Dabei gelingt es allerdings nicht immer, die zahlreichen Fäden und Argumentationsstränge jeweils zu Ende zu denken und in ein konsistentes Gesamtbild zusammenzubringen.

Einleitung und Kapitel 1 sind primär methodisch ausgerichtet. Im Vordergrund stehen vor allem sprachliche Entwicklungen in der Bezeichnung von Gerüchen. Über Verschiebungen in Bedeutungen, der Häufigkeit affektiver Vokabeln im Zusammenhang mit Gerüchen oder auch die zunehmende Zahl binär wertender Geruchsbeschreibungen lassen sich, so Tullett, wertvolle Rückschlüsse auf die Erfahrungswelten und Wahrnehmungen der Akteurinnen und Akteure ziehen. Diese ermöglichen wiederum weiterführende Erkenntnisse zu den entsprechenden Gesellschaften.

Kapitel 2 fokussiert auf die Gerüche der Straße und der Innenräume englischer Städte im langen 18. Jahrhundert. Besonders deutlich wird hier, wie ein gezielter Einbezug der Kategorie "Raum" Geruchspraktiken und deren Wandel größere Komplexität verschaffen kann: Während das Schnüffeln an Lebensmitteln auf dem Markt beispielsweise eine wichtige Technik war, die sicherstellte, dass frische Lebensmittel auf den Tisch kamen und Gastgeberinnen und Gastgeber somit ihren sozialen Status aufzeigen konnten, stellte das Riechen des Gastes am Tisch diesen Status gerade in Frage.

Am Beispiel der Straßenreinigung wird verdeutlicht, wie im 18. Jahrhundert ältere Sorgen bezüglich der gesundheitsgefährdenden Wirkung schlechter Gerüche abgelöst wurden von einem Verständnis, das vielmehr die Ästhetik gereinigter Straßen und das Ideal ungehinderter Zirkulation in den Mittelpunkt rückte. Schlechte Gerüche galten dennoch nach wie vor als Belästigungen. Allerdings lag die Wahrnehmung eines Geruchs als "schlecht" nun zunehmend an den individuellen Befindlichkeiten der einzelnen Akteure. Damit wurde die Gewöhnung etwa verschiedener Berufsgruppen an Gerüche stärker gewichtet. Vor allem wuchs auch die Bedeutung sozialer Differenzierungen anhand je nach Status und Wohnort unterschiedlich stark ausgeprägter Sensibilitäten. Was Tullett hier also konstatiert, ist eine Verschiebung der "powers of smell" (104f.) aus dem medizinischen in den sozialen Bereich.

Hier setzen auch die beiden nachfolgenden, medizinhistorisch ausgerichteten Kapitel an. Gezeigt wird wie sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Luft und deren krankheitsauslösenden Wirkungen von Gerüchen entkoppelte. Gleichzeitig wurden Gerüche auch in der medizinischen Praxis zunehmend unwichtig.

Dafür gewannen sie anderswo weiter an Bedeutung, was Kapitel 5 am Beispiel der Politik und der Religion aufzuzeigen sucht. Im Zentrum steht hierbei die metaphorische Nutzung des Geruchsvokabulars. Eingängig beschreibt Tullett, wie die (metaphorische) "liberty to shit, to fart and generally to stink" (111) als ein als wichtig empfundenes Freiheitsrecht zunehmend abgelöst wurde von der Vorstellung einer invasiven obrigkeitlichen Politik, die darauf abzielte, Korruption "auszuschnüffeln", und damit zum Rückzug der (metaphorischen) Geruchswelten ins Private beitrug.

Die anschaulichsten Kapitel des Buches (6 und 7) beschäftigen sich einerseits mit dem Wandel vom Tabakrauchen hin zur Benutzung von Schnupftabak und andererseits mit der Ablösung des Pomanders als primärem Parfümträger durch das Riechfläschchen. Sehr schön zeigen beide Detailstudien auf, wie sich die Geruchsnutzung zunehmend auf den einzelnen, zunehmend abgeschlossenen Körper konzentrierte. Statt rauchend oder parfümgetränkt der jeweiligen Umgebung den eigenen Geruch aufzuzwängen, wurde es üblich, sich über seinen eigenen, individuell angepassten Geruchsraum "privacy in public" zu schaffen. Dabei geraten soziale Aspekte von Gerüchen keineswegs in den Hintergrund, was Tullett vor allem anhand der Kategorie Geschlecht ausführlich diskutiert. Ein achtes Kapitel greift vor allem die These der Individualisierung der Geruchswelten erneut und abschließend auf - nun am Beispiel des Lustgartens.

Dass im Verlauf der Lektüre so manches Argument weniger nachvollziehbar bleibt als andere, lässt sich auch mit der etwas unglücklichen Anlage des Buches erklären: Die beeindruckende Masse an verwendeten Textquellen führt dazu, dass diese zumeist statt analysiert zu werden, mehr als knappe Belege einer bereits gesetzt erscheinenden Argumentation benutzt werden - ein Verfahren, das gerade bei den häufig verwendeten sehr vielschichtigen satirischen Texten zum Widerspruch reizt. Von den zahlreichen angeführten Bildquellen ist zudem lediglich etwa ein Drittel abgedruckt.

Zwar überzeugt die fundiert vorgetragene Kritik an Alain Corbins klassischer Geruchsgeschichte zu Frankreich im 18. Jahrhundert [3], ernüchternd ist jedoch das Fazit, das die Corbin widersprechenden Ergebnisse des Buchs maßgeblich mit nationalen Unterschieden zwischen England und Frankreich zu erklären sucht (206f.). Spannender wäre es gewesen, die Unterschiede im Vorgehen und in den theoretischen Vorannahmen der beiden Studien deutlicher herauszuarbeiten und damit die hier formulierten Thesen breiter aufzustellen. Dass darauf weitgehend verzichtet wird, mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Literaturliste keinen einzigen nicht in englischer Fassung verfügbaren Text aufführt. Dennoch sind Tulletts methodische Überlegungen und Schlussfolgerungen weit über England hinaus anregend.

Überzeugend wird Geruchsgeschichte hier nämlich vorgestellt als ein integraler Bestandteil einer breit aufgestellten Gesellschaftsgeschichte. Keine weitere "Bindestrichgeschichte" also, sondern ein innovativer Ansatz für Fragestellungen nach Körperkonzepten, Soziabilität, Raum, Geschlecht, Materialität, Konsum oder auch Politik und Religion. Tulletts pointierte Thesen bieten dazu enormes Anschluss- wie auch Widerspruchspotenzial.


Anmerkungen:

[1] Hans J. Rindisbacher: What's this Smell? Shifting Worlds of Olfactory Perception, in: KulturPoetik 15/1 (2015), 70-104, hier 70.

[2] Nur als Beispiele: Holly Dugan: The Ephemeral History of Perfume. Scent and Sense in Early Modern England, Baltimore 2011; Jonathan Reinarz: Past Scents. Historical Perspectives on Smell, Urbana 2014.

[3] Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984. Zur Kritik siehe z. B. Mark S. R. Jenner: Civilization and Deodorization? Smell in Early Modern English Culture, in: Civil Histories. Essays Presented to Sir Keith Thomas, ed. by Peter Burke / Brian Harrison / Paul Slack, New York 2000, 127-144.

Rezension über:

William Tullett: Smell in Eighteenth-Century England. A Social Sense, Oxford: Oxford University Press 2019, VIII + 246 S., 11 s/w-Abb., eine Tbl., ISBN 978-0-19-884413-6, GBP 65,00

Rezension von:
Sarah-Maria Schober
Universität Zürich
Empfohlene Zitierweise:
Sarah-Maria Schober: Rezension von: William Tullett: Smell in Eighteenth-Century England. A Social Sense, Oxford: Oxford University Press 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 3 [15.03.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/03/33604.html


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