sehepunkte 20 (2020), Nr. 2

Christoph Hamann: Fotografien im Geschichtsunterricht

2006 versammelte sich die Zunft der Historikerinnen und Historiker, um auf dem Historikertag in Konstanz über "Geschichtsbilder" zu diskutieren. Knapp anderthalb Jahrzehnte später fristet die Thematisierung von Bildern im Geschichtsunterricht ein oftmals wenig reflektiertes Dasein. Auch wenn es an Artikeln über "Bilder im Geschichtsunterricht" in didaktischen Handbüchern nicht fehlt, geschichtsdidaktische Zeitschriften Unterrichtsvorschläge präsentieren, die Visualia in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen, in zentralen Abiturklausuren oftmals Karikaturen Ausgangsmaterial der Interpretationen darstellen - im Geschichtsunterricht dienen Fotografien und andere Bilder zumeist als reine Illustration des an schriftlichen Quellen Analysiertem. Vor dem Hintergrund der wenigen bisher veröffentlichten empirischen Studien über den Einsatz von Visualia im Geschichtsunterricht [1] lässt sich konstatieren, dass tiefer gehende Analysen von Bildern im Geschichtsunterricht als Ausnahme von der Regel betrachtet werden müssen.

Diese Beobachtungen stehen am Anfang von Christoph Hamanns Band "Fotografien im Geschichtsunterricht". Hamann möchte Lehrenden Anregungen zu einem theoriegeleiteten und analytischen Umgang mit Bildern geben, indem er die Theorie der Visual History für die Praxis des Geschichtsunterrichts fruchtbar macht. Im Zentrum der Publikation stehen dabei 33 Fotografien aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die zumeist (aber nicht ausschließlich) der Zeitgeschichte zuzuordnen sind. Um einen Einsatz der von Hamann ausgewählten Fotografien im Geschichtsunterricht zu ermöglichen, wurden "vor allem solche Themen berücksichtigt, die im Allgemeinen im Geschichtsunterricht realisiert werden" (5). Äußerst gelungen ist die Zusammenstellung zudem, da sie einerseits bekannte visuelle Ikonen aufnimmt (wie etwa die Fotografien des Stroop-Berichts aus dem Warschauer Ghetto von 1943 oder die Flucht des Volkspolizisten Conrad Schumanns aus Ostberlin 1961). Andererseits entdeckt der Leser gänzlich unbekannte Fotografien, deren Analysen nicht minder instruktiv sind (etwa die Portraitfotografie eines anscheinend homosexuellen Soldatenpaares von 1913 oder die fotografische Darstellung zweier FDJ-Funktionäre auf einem Konzert von Bruce Springsteen in Ostberlin 1988).

Das von Hamann angelegte analytische Konzept zur Interpretation der Bilder basiert auf einer Kategorisierung der Fotos in vier Typen: Fotos als Quellen, Symbole, Bildakte und manipulierte Fotos. Fotos als Quellen dienen dem Betrachter als Beglaubigung von Geschehenem. Der Fotograf wird in seiner Rolle als Augenzeuge wahrgenommen. In dem von ihm produzierten Medium treffen sich im Sinne des Betrachters Realismus, Wahrheit, Authentizität und Objektivität. Erst in ihrer stetigen Rezeption können Fotografien zu Symbolen werden. So schälen sich im Laufe der Jahrzehnte kanonische Bilder über historische Ereignisse geschichtskulturell heraus. Dabei folgen die von den Fotografien transportierten Deutungen nicht immer den Erkenntnissen der historischen Wissenschaft. Sie können ebenso von der Geschichtswissenschaft widerlegte Sinngebungen popularisieren. Die Idee von Fotografien als Bildakte folgt den Überlegungen des Kunsthistorikers Horst Bredekamp. [2] Oftmals zielen etwa Terrorakte darauf ab, dass Bilder der Tat um die Welt gehen. Somit verbreiten die Terroristen nicht nur durch ihre Taten, sondern vielleicht vielmehr noch durch die mediale Rezeption der Tat in Fotografien Angst und Schrecken. Manipulation schließlich versteht Hamann als eine Verfälschung der Fotografie. Fotografien werden manipuliert, ohne dabei ihre Glaubwürdigkeit beim Betrachter zu verlieren.

Auch wenn diese Einteilung in die vier Kategorien Quelle, Symbol, Bildakt und Fälschung nicht ganz so trennscharf ist, wie es der Aufbau des Bandes vermuten lässt, so gibt sie Hamanns Bildauswahl (und nicht zuletzt der Beschäftigung mit Fotografien im Geschichtsunterricht) doch eine analytische Struktur. Die 33 Fotografien des Bandes sind folglich nicht chronologisch oder themenspezifisch angeordnet wie in den meisten didaktischen Bildsammlungen. Der Aufbau der Sammlung folgt vielmehr in vier Kapiteln Hamanns Kategorisierung.

Als besondere Herausforderungen für die Thematisierung von Visualia im Schulunterricht sieht Hamann in seinen einleitenden Kapiteln zurecht die Gewohnheit der Lernenden, Bilder vornehmlich flüchtig zu betrachten und diese (zumindest in ihrem alltäglichen Umgang) nicht einer zeitintensiven Analyse zu unterziehen. Diese "minimale Verarbeitung" von Bildern im Alltag (9) gilt es im Geschichtsunterricht aufzubrechen, möglichst ohne den lebensweltlichen Bezug des Mediums Fotografie aufzugeben. Ausgehend von dieser Zielsetzung präsentiert Hamann neben der Kategorisierung praxisnahe und kompetenzorientierte Analysemodelle und -methoden, die seine theoretischen Überlegungen konkretisieren und somit für den Unterricht nutzbar machen (9-15, 106-112).

In der Zusammenstellung der 33 Fotografien geraten vor allem die Begleitmaterialen instruktiv. So helfen vom Autor verfasste Einführungen in die Entstehung und zu den Produzenten der Fotos, kurze Textquellen, Statistiken und weitere Visualia, die Fotografien in einen historischen Kontext einzubetten und aus ihnen heraus eine historische Narration zu entspinnen. Interessant gestaltet sich diese Materialzusammenstellung ganz besonders dann, wenn ein flüchtiger Blick auf die Fotografien und die Aussagen der Begleitmaterialien scheinbar konträre Geschichten erzählen, etwa bei der Fotografie zur Mobilmachung der deutschen Armee 1914 (54 / 55).

Zudem besticht der Band vor allem dadurch, dass Hamann in seinen Materialzusammenstellungen zumeist keine eindeutigen Interpretationen vorgibt. Er lässt vielmehr eigensinnige Deutungen der Betrachter zu und fordert zu solchen auf. Dies bleibt das grundlegende Ziel Hamanns für den Umgang mit Fotografien im Geschichtsunterricht: Die Lernenden erkennen die Vieldeutigkeit des Mediums Fotografie, sie spüren unterschiedlichen Deutungen von Produzenten und Betrachtern nach, sie analysieren die historisch wandelbaren Deutungsstrukturen, denen Visualia unterworfen sind.


Anmerkungen:

[1] Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung, Münster 2011.

[2] Horst Bredekamp: Der Bildakt, Berlin 2015.

Rezension über:

Christoph Hamann: Fotografien im Geschichtsunterricht. Visual History als didaktisches Konzept (= Geschichte unterrichten), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, 118 S., zahlr. s/w-Abb., zahlr. Tbl., ISBN 978-3-7344-0713-0, EUR 24,90

Rezension von:
Benjamin Städter
Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, RWTH Aachen
Empfohlene Zitierweise:
Benjamin Städter: Rezension von: Christoph Hamann: Fotografien im Geschichtsunterricht. Visual History als didaktisches Konzept, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/02/32807.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.