sehepunkte 19 (2019), Nr. 11

Daniela Gasteiger: Kuno von Westarp (1864-1945)

Kuno von Westarp war nicht nur einer der einflussreichsten deutschen Konservativen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, sondern auch einer der interessantesten. Denn wie kein zweiter spiegelt er die Komplexität und die Widersprüche des deutschen Konservatismus vor 1933 wider. Angesichts seiner großen Bedeutung ist es erstaunlich, dass sein politisches Denken und Handeln bisher nicht zum Thema einer größeren geschichtswissenschaftlichen Arbeit gemacht wurde. Diese Lücke hat Daniela Gasteiger nun mit einer gelungenen Biografie des Politikers gefüllt.

Der im Jahr 1864 in der preußischen Provinz Posen geborene Kuno Graf von Westarp stammte aus einer unbegüterten Familie des preußischen "Dienstadels", die sich durch eine unerschütterliche Loyalität zum Königtum auszeichnete. Als Angehöriger dieser Schicht war Westarp auf eine Karriere in der Verwaltung angewiesen. Der Dienst für Kaiser und Reich war der einzige Weg, den er seinem Selbstverständnis entsprechend gehen konnte, wie Gasteiger im ersten Kapitel vor Augen führt. Im Gesamtzusammenhang der Biografie nimmt dieses Kapitel eine Schlüsselstellung ein. Es zeichnet die geistig-politische Entwicklung des jungen Westarp in einer Mischung aus Sozial- und Ideengeschichte nach und bildet auf diese Weise das Fundament, auf dem sich die ganze folgende Argumentation entfalten kann. In der Verbindung von sozialgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Erklärungsmustern liegt im Übrigen die besondere Stärke dieser Arbeit.

Im Mittelpunkt des Westarp'schen Konservatismus, den Gasteiger anhand der Untersuchung seiner frühen Jahre herausarbeitet, steht der Kult um Preußen, das heißt um ein ganz bestimmtes Preußenbild. Westarps Preußen hatte die "Kargheit" als höchsten Wert und war nicht zuletzt durch ständige Bedrohung von außen zu dem geworden, was es war. Diese beiden Elemente integrierte Westarp in seine politische Identität. Man könnte von "Kargheit" als einem Lebensstil sprechen, der geeignet war, ständige Bedrohungen des eigenen und des staatlichen Daseins abzuwehren.

Nicht ganz so überzeugend, wie diese Interpretation von Westarps Selbstverständnis ist Gasteigers Utopiebegriff. Aus ihrer Sicht war das Preußen des 18. Jahrhunderts für Westarp eine in der Vergangenheit liegende Utopie, die er auf reaktionäre Weise in der Gegenwart verwirklicht sehen wollte. Doch abgesehen von der problematischen Verwendung des Utopiebegriffs trägt diese Interpretation auch deshalb nicht völlig, weil Westarp aufgrund seiner prekären sozialen Lage Denk- und Verhaltensmuster ausbildete, die ihn als ausgesprochen modern erscheinen lassen. Als hoher, aber aus eigener Sicht auf das Abstellgleis eines Oberverwaltungsgerichtsrats abgeschobener Beamter, wurde Westarp 1908 für die Deutschkonservative Partei in den Reichstag gewählt, wurde 1912 stellvertretender Vorsitzender und 1913 sogar Vorsitzender seiner Fraktion. Dass er als Beamter ohne Grundbesitz in dieser agrarischen Partei so weit kommen konnte, zeigt die Brüche und Inkonsistenzen von denen der deutsche Konservatismus schon zu dieser Zeit geprägt war. Es zeigt aber auch, dass Westarp selbst nicht ohne Widersprüche war. Hätte er aufgrund seines starken Reichsbewusstseins, das sicher auch mit seiner - von Gasteiger unerwähnt gelassenen - Mitgliedschaft im Kyffhäuserverband der Vereine Deutscher Studenten zu erklären ist, nicht eher den Weg zu den Freikonservativen finden müssen? Auch sein sozialer Status hätte das nahegelegt.

Dass er sich anders entschied, hatte sicher mit den Umständen zu tun, aber auch damit, dass seine politischen Anschauungen eben nicht allein auf soziale Umstände zurückzuführen waren. Schon vor dem Ersten Weltkrieg waren Westarps Überzeugungen von einer verblüffenden Individualität. In den Kapiteln zu seiner Entwicklung in der Zeit des Ersten Weltkriegs macht Gasteiger deutlich, dass er, indem er ganz neue Ideen entwickelte, seiner Neigung zum Unorthodoxen treu blieb. Hatte er dem Krieg wie die Mehrheit der Konservativen zu Beginn verhalten gegenübergestanden, entwickelte er sich unter dem Einfluss von Alfred von Tirpitz zum Navalisten und Verfechter eines Siegfriedens. Dabei forderte er keine Gebietsgewinne im Osten, sondern weitreichende Annexionen im Westen. Gleichzeitig wurde er zu einem immer schärferen Kritiker Theobald von Bethmann Hollwegs, was ihn auch in Gegensatz zu Wilhelm II. brachte. Tatsächlich geriet er auf diese Weise in eine heikle Lage, denn seinem eigenen Verständnis von Konservatismus entsprechend hätte er die Regierung des Kaisers eigentlich gar nicht kritisieren dürfen.

Auch in der Weimarer Republik entwickelten sich seine Positionen weiter. Als Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei hielt er an der Monarchie fest und lehnte zunächst auch Parlamentarismus und Demokratie ab. Gleichwohl gehörte er zu denjenigen in der Partei, die sich für ein pragmatisches Verhältnis zur Republik und auch für die Beteiligung an bürgerlichen Koalitionen aussprachen. Gasteiger kann freilich zeigen, dass das nicht hieß, dass er sich zu einer Art "Vernunftrepublikaner" entwickelt hätte. Selbst als er sich 1930 als Gegner des rechtsradikalen Kurses Alfred Hugenbergs an der Gründung der Konservativen Volkspartei beteiligte, hatte er die Republik nicht vollständig akzeptiert.

Am Ende verfestigt sich der Eindruck, dass Westarps Konservatismus etwas sehr Unkonservatives an sich hatte - dann zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Ethik des Bewahrens immer eine Rückbindung an die Realität benötigt. Ein Nationalliberaler wie Gustav Stresemann, der - ähnlich wie Adolphe Thiers 1873 in Frankreich - die Nation über die Staatsform stellte und ausgehend davon für den Fortbestand der Republik als einzig denkbarer Staatsform kämpfte, kann von dieser Warte aus eher als konservativ bezeichnet werden als Westarp. Insofern ist Gasteiger durchaus recht darin zu geben, dass Westarps Konservatismus zu sehr statischen und überholten Motiven aus dem Kaiserreich verhaftet war, um als "missing link" [1] zwischen dem Konservatismus des 19. Jahrhunderts und einem an die liberale Demokratie angepassten Konservatismus der Bundesrepublik Deutschland gelten zu können.

Gasteigers Biografie über Kuno von Westarp, die auf einer ungemein breiten Quellengrundlage beruht, macht gegen Thomas Mergels These von der Möglichkeit eines "deutschen Tory-Konservatismus" in den 1920 Jahren [2] deutlich, dass es den "Gemäßigten" in der DNVP um Westarp, also den späteren "Volkskonservativen", vor allem an authentischer Mäßigung gefehlt hat, einer Mäßigung, die über taktische Erwägungen hinausgegangen und eine echte Akzeptanz des Liberalismus zugelassen hätte. Auch weil sie das vor Augen führt, hat Gasteiger mit ihrer Westarp-Biografie einen wichtigen Beitrag zur neueren Forschung über den Konservatismus in Deutschland geleistet.


Anmerkungen:

[1] Stephan Malinowski: Kuno Graf von Westarp - ein missing link im preußischen Adel. Anmerkungen zur Einordnung eines untypischen Grafen, in: "Ich bin der letzte Preuße". Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp (1864-1945) (= Stuttgarter Historische Forschungen; Bd. 3), hgg. von Larry E. Jones / Wolfram Pyta, Köln / Weimar / Wien 2006, 9-32.

[2] Thomas Mergel: Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928-1932, in: HZ 276 (2003), 323-368.

Rezension über:

Daniela Gasteiger: Kuno von Westarp (1864-1945). Parlamentarismus, Monarchismus und Herrschaftsutopien im deutschen Konservatismus (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 117), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, X + 521 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-052905-0, EUR 64,95

Rezension von:
Matthias Oppermann
Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Oppermann: Rezension von: Daniela Gasteiger: Kuno von Westarp (1864-1945). Parlamentarismus, Monarchismus und Herrschaftsutopien im deutschen Konservatismus, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/11/31794.html


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