sehepunkte 19 (2019), Nr. 5

Giulia Ecca: Die hippokratische Schrift Praecepta

Innerhalb des vielgestaltigen Corpus Hippocraticum, ca. 60 griechischer medizinischer Texte, die in der (späteren) Überlieferung dem Arzt Hippokrates von Kos zugeschrieben wurden, gibt es inhaltlich zu scheidende Gruppen. Neben medizinischen Einzelfächern, von denen einzelne wie die Chirurgie und Frauenheilkunde aus moderner Perspektive direkt erkennbar sind, gibt es verstreute Passagen in größeren Werken und gesonderte Texte, in denen Haltung und Verhalten des Arztes in kritischen Situationen angesprochen werden; die zusammenhängende Darstellungen derartiger Fragen finden sich in den sogenannten deontologischen Schriften. Das Berufsethos des griechischen Arztes kreiste um wesentlich andere Inhalte und Problemfelder als die moderne Medizinethik. Welche Voraussetzungen musste ein guter Arzt mitbringen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten waren zu erwerben? Wie sollte sich der Arzt verhalten - am Krankenbett, im Umgang mit Sterben und Tod, im Kontakt mit Patienten, Angehörigen, der Öffentlichkeit, im Umgang mit Kollegen, in öffentlichen "Auftritten"? Wann und in welcher Form sollte er über das Honorar sprechen? Weitere Problemfelder der hippokratischen Medizin betrafen das Verhältnis von (männlichen) Ärzten zu Frauen oder Angehörigen im Haus eines Kranken.

Einer der Texte dieser deontologischen Schriften trägt den griechischen Titel Parangeliai, "Vorschriften", üblicherweise mit dem lateinischen Titel als Praecepta bezeichnet. Die Praecepta sind vergleichsweise kurz, sie füllen 10 Druckseiten in der neuen Edition von Giulia Ecca. Ihr Buch umfasst mehr als 400 Seiten, doch die Vermutung, hier könnte des Guten ein wenig zu viel getan worden sein, erweist sich als voreilig. Die hier anzuzeigende Edition, Übersetzung (deutsch und italienisch) sowie ausführliche Kommentierung der Praecepta durch Ecca erschließt den Text in mustergültiger Weise und setzt neue Maßstäbe für die Erforschung der deontologischen Schriften des Corpus Hippocraticum.

Eccas Studie, hervorgegangen aus ihrer Dissertation (HU Berlin, 2014), ist in vier große Kapitel gegliedert. Ein erster Teil ("Einleitung", 1-103) führt zunächst kurz in die medizinische Deontologie ein und erörtert sodann die Stellung der Praecepta innerhalb des Corpus Hippocraticum, inklusive subtiler "hippokratischer Anklänge" auf inhaltlicher Ebene. Ausführlich und aus der Feder einer Gräzistin erwünscht, werden die direkte und indirekte handschriftliche Textüberlieferung, die früheren Editionen und sprachliche Eigenheiten der Praecepta dargestellt. Das Werk gehört zur Gruppe der "eisagogischen" Schriften, ist allerdings, wie Ecca im Anschluss an frühere Bearbeiter der Praecepta ausführt, "oft obskur und aufgrund einer zu knappen und gleichzeitig anspruchsvollen Ausdrucksweise fast unverständlich." (3) Einigermaßen wahrscheinlich entstammt der Text einem (stadt-)römischen Kontext der Kaiserzeit; dass der Autor kein Muttersprachler im Griechischen war, wie frühere Bearbeiter vermuteten, hält auch Ecca für möglich, aber nicht für beweisbar. Gewiss erscheint ihr jedoch die Tatsache, dass der Text korrupt überliefert ist, weil auch mittelalterliche Kopisten mit dem Inhalt Schwierigkeiten hatten. Wir haben es hier also mit einem griechischen Text zu tun, den Gräzisten und Gräzistinnen in manchen Passagen (fast) nicht verstehen, der in der Antike von keinem Autor zitiert wurde (mit Ausnahme eines einzigen Satzes in einer pseudogalenischen Schrift), und der vermutlich in der Spätantike (zusammen mit den hippokratischen Traktaten De medico und De decenti habitu) in das Corpus Hippocraticum gelangte. Die sich damit abzeichnenden Herausforderungen hat Ecca überzeugend gemeistert.

Im zweiten Hauptteil bietet sie eine neue kritische Ausgabe mit paralleler deutscher Übersetzung (110-129). Die Edition und die sorgfältigen Apparate lassen keine Wünsche offen; besonderes Interesse darf die deutsche Übersetzung beanspruchen, die Ecca einerseits wörtlich anlegt, die aber zugleich verständlich sein soll. Das gelingt ihr durchgehend. Ihre Arbeitsweise sei an zwei Beispielen erläutert. Der Text beginnt mit dem Satz: "Die Zeit (chronos) ist das, in dem der günstige Zeitpunkt (kairos) enthalten ist, und der günstige Zeitpunkt ist das, in dem nicht viel Zeit enthalten ist." (111) Der Anklang an den ersten hippokratischen Aphorismus ist evident. Eleganter und ebenso wörtlich wäre die Übersetzung: "In der Zeit ist günstiger Augenblick, im günstigen Augenblick ist nicht viel Zeit." Das zweite Beispiel betrifft eine in der Moderne häufig angeführte Stelle der Praecepta; hier lautet die neue Übersetzung von Ecca folgendermaßen: "Denn wo freundliche Hilfsbereitschaft (philanthropia) gegenüber den Menschen vorhanden ist, wird auch die Kunst gut ausgeübt (philotechnia)." (119) Der Text ließe sich auch folgendermaßen übersetzen: "Denn wenn Menschenliebe vorhanden ist, ist auch Liebe zur Kunst vorhanden." In beiden Fällen geht es hinsichtlich der Übersetzung einerseits um Geschmacksfragen, die so oder anders zu beantworten sind, aber zugleich zeigen die beiden Beispiele, die sich auf vergleichsweise eindeutige Textpassagen beziehen, die durchdachte Vorgehensweise von Ecca. Ihre Übersetzung ist ausführlich wörtlich und zugleich erklärend. Dies ist bei den rätselhaften Praecepta mehr als erwünscht. Das Beispiel "philanthropia-philotechnia" zeigt dies deutlich. Der Satz kann nämlich auch (miss-)verstanden werden: danach würde das "menschenfreundliche" Auftreten des Arztes auf Seiten der Patienten (und anderen) deren "Liebe zur Kunst" (der Medizin) erwecken. Dieser naheliegende Fehlschluss wird durch Eccas Übersetzung direkt vereitelt. Sie kann mit ihrer philologischen Kompetenz durchgehend auch zu den (leider häufigen) "dunklen" Passagen des Textes eine Übersetzung anbieten, die (irgend-)einen Sinn ergibt. Diese Leistung kann nicht hoch genug geschätzt werden. Eccas Übersetzung der Praecepta wird ab jetzt der Standard sein. Doch haben die beiden Beispiele bereits angedeutet, dass eine bloße Übersetzung den Leser buchstäblich alleine ließe.

Der Kommentarteil, wesentlicher Inhalt des ausführlichen dritten Hauptteils (135-314) ist hochwillkommen und unverzichtbar. Ecca hat den Text (neu) eingeteilt in 10 Kapitel; im Kommentar wird zunächst jedes Kapitel unter einer Überschrift (z.B. bei Kapitel 5: "Schlechte Ärzte und schlechte Patienten") auf Deutsch paraphrasiert, sodass auch eilige Leser (denen die Benutzung der Praecepta allerdings abzuraten ist) neben der wörtlichen Übersetzung eine flüssige Inhaltsangabe jeden Kapitels finden. Im Kommentar werden Satz für Satz sprachliche, editorische und inhaltliche Fragen erörtert. Bleiben wir beim Beispiel "philanthropia-philotechnia", so finden sich zu dem einen Satz insgesamt fünf Seiten Kommentar, angefangen von den Ansichten der älteren Forschung zu dieser Stelle, über die Verwendungen der Schlüsselbegriffe in antiken Quellen bis zur inhaltlichen Begründung der neuen Übersetzung. Die Fülle der gelehrten Anmerkungen ist nicht nur für das Verständnis der Praecepta selbst wertvoll, sondern erschließt auch allgemeine Zusammenhänge der griechischen Medizin. Ecca hat indirekt eine Art Nachschlagewerk geschaffen, da sie einen Index verborum für die z.T. seltenen Wörter der Praecepta vorlegt, die über Text und Kommentar direkt auffindbar sind. Ein umfangreicher "Anhang" enthält die Edition, Übersetzung (deutsch und italienisch) eines Scholions zum ersten Kapitel der Praecepta (315-370). Dieses Scholion, nur überliefert in der Handschrift Vaticanus Urbinas graecus 68 (dort f. 26v-27r.), stammt höchstwahrscheinlich von einer Hand des 15. Jahrhunderts. Ecca erläutert umfassend die mögliche (früh-)byzantinische Herkunft des in der Edition mehr als drei Seiten ausmachenden Scholions. Die Frage, ob das Scholion Teil eines Kommentars zu den Praecepta insgesamt war oder als eigenständig anzusehen ist, muss unbeantwortet bleiben. Eccas kommentierende Anmerkungen zum Scholion bewegen sich auf demselben hohen Niveau wie diejenigen zu den Praecepta selbst.

Insgesamt ist Giulia Eccas neue Edition der Praecepta ein bedeutender Baustein zur Forschung, sowohl im Kontext des Corpus Hippocraticum allgemein als auch speziell zu den deontologischen Texten. Es versteht sich, dass sie die gesamte bisherige Forschung, die im sorgfältig gegliederten Literaturverzeichnis aufgeführt ist, kritisch rezipiert. Erfreulich ist die großzügige, augenfreundliche und geschmackvolle Einrichtung des Buches durch den Verlag. Die wenigen Druckfehler oder einzelne winzige sprachliche Versehen sind hier nicht weiter erwähnenswert, da sie an keiner Stelle den Sinn stören. Die griechischen Texte sind mit größter Sorgfalt und fehlerfrei abgedruckt. Eccas Studie zu den Praecepta setzt Maßstäbe und lässt darauf hoffen, dass auch weitere deontologische Texte in dieser Weise der Forschung zugänglich gemacht werden.

Rezension über:

Giulia Ecca: Die hippokratische Schrift Praecepta. Kritische Edition, Übersetzung und Kommentar (= Serta Graeca; Bd. 32), Wiesbaden: Reichert Verlag 2016, VII + 410 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-95490-154-8, EUR 119,00

Rezension von:
Karl-Heinz Leven
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Heinz Leven: Rezension von: Giulia Ecca: Die hippokratische Schrift Praecepta. Kritische Edition, Übersetzung und Kommentar, Wiesbaden: Reichert Verlag 2016, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 5 [15.05.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/05/29645.html


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