sehepunkte 19 (2019), Nr. 4

Lena Wahlgren-Smith (ed.): The Letter Collections of Nicholas of Clairvaux

In die Ordensgeschichte ging er als schwarzes Schaf, als Verräter Bernhards von Clairvaux ein. Und lange pflegte auch die Geschichtsschreibung dieses Bild. Erst in jüngerer Zeit bemühte man sich um ein etwas differenzierteres Urteil. Allerdings kann auch die Editorin der vorliegenden Briefsammlungen, die inzwischen als beste Kennerin von Nikolaus' Leben und Werk gelten darf, nicht umhin zu bekennen, dass innerhalb der Forschung "there is a tendency to stress the traits of immaturity and vanity in his caracter, and it is difficult not to agree with this assessment." (xii) Ebenso unstrittig ist, dass Nikolaus über die Gabe verfügte, "to take on the colour of his surroundings." (xii) Dies hat auch Auswirkungen auf seinen literarischen Stil. Die Editorin bezeichnet Nikolaus unverkrampft als "unashamed plagiarist, with a style that can best be described as cut-and-paste." (xii) Bei so viel negativer Kritik rechnet man mit dem Schlimmsten - und wird doch eines Besseren belehrt.

Nikolaus wurde um die Mitte der 1120-er Jahre geboren. Nahezu nichts ist über seine Kindheit und Jugend bekannt - mit Ausnahme der Tatsache, dass er zu einem unbekannten Zeitpunkt in die Benediktinerabtei von Montiéramey (Aube) eintrat. Als Benediktiner lehrte und predigte er. 1145/46 offenbarte er seine Absicht, den Benediktinerorden zu verlassen und zu den Zisterziensern überzutreten. Dies sorgte in seinem Heimatkloster verständlicherweise für wenig Begeisterung. Nikolaus mochte in seinen Briefen das Bild eines jungen delicatus zeichnen, der im Kloster verwöhnt (und verdorben) worden sei, sich aber durch seine Hinwendung zum strengen Lebensstil der Zisterzienser selbst aus dem Sumpf gezogen habe - dahinter dürfte sich jedoch einiges an apologetischer Absicht verbergen.

Seine Absicht, das Kloster zu verlassen, teilte er mit anderen Mitgliedern der Kommunität von Montiéramey, genauer: dem Prior und einer nicht näher bekannten Anzahl Mönchen. Clairvaux brachte Nikolaus damit in eine unangenehme Lage, mussten flüchtende Mönche doch in ihr Kloster zurückgeschickt werden. Genau dies geschah. Ins Unglück gestürzt, gab Nikolaus dennoch nicht auf, sondern versuchte brieflich (fünf Briefe befassen sich ausdrücklich mit dieser Thematik), einige klösterliche Amtsträger in Clairvaux für sein Schicksal zu interessieren. Immer wieder findet sich hier die Ermahnung, die Informationen vertraulich zu behandeln (Giles Constable deutete dies als "love of intrigue"). Ab 1146 verbrachte Nikolaus rund fünf Jahre in Clairvaux, wo er im Skriptorium vor allem mit der Abfassung der umfangreichen Korrespondenz Bernhards von Clairvaux und dem Abschreiben seiner Werke befasst war. In Brief 35 erwähnt er mit nicht geringem Stolz seinen eigenen kleinen Arbeitsplatz, einen domuncula genannten Ort abseits der Novizenzellen, der mit Büchern gefüllt war - ein Raum, der Nikolaus wohl auch als geistiger Rückzugsort diente. Sein Entschluss, eine Sammlung eigener Briefe anzulegen, dürfte wohl auf die Sammlung von Bernhards Briefen zurückgehen, die Geoffroy d'Auxerre kurz zuvor fertiggestellt hatte.

An der Bibliothek von Clairvaux war Nikolaus interessiert. An keiner Stelle wird dies deutlicher als in einem im Namen eines Mitbruders verfassten Brief an den Kanzler Arnold von Wied (ep. 29), in dem er dem zum Kreuzzug aufbrechenden "Freund" nahe legt, seine Dinge zu ordnen und in Ermangelung leiblicher Erben dem Kloster Clairvaux seine umfangreiche Bibliothek zu überlassen.

Als es 1152 zum Bruch mit Bernhard kam, lautete der Hauptvorwurf Vertrauensmissbrauch. Tatsächlich hatte sich Nikolaus wohl zu sehr mit Bernhard selbst identifiziert. Auf eigene Initiative hin hatte er Briefe in dessen Namen verfasst und versandt. Bernhard brachte dies in eine peinliche Situation. Selbst dem Papst musste mitgeteilt werden, dass falsche Bernhard-Briefe in Umlauf waren. Nikolaus war selbstbewusst genug, um Bernhard zu verstehen zu geben, dass er sich nicht wie einen räudigen Hund vom Hof jagen lasse, verfüge er doch über einflussreiche Freunde an der Kurie. Dies scheint tatsächlich der Fall gewesen zu sein, anders lässt sich sein sanfter Fall nicht erklären. Er kehrte jedenfalls in den Schoß seines benediktinischen Heimatklosters zurück und vertrat dessen Interessen an der Kurie. 1160/61 ist er als Prior von St-Jean-en-Châtel, einem von Montiéramey abhängigen Priorat, nachweisbar. Zuletzt wird er in einer Urkunde von 1175 erwähnt.

In ihrer ausführlichen Einleitung skizziert die Herausgeberin jedoch nicht nur die Biographie des Nikolaus, sondern geht auch überaus kenntnisreich auf seine Schriften ein, unter denen die Briefe qualitativ und quantitativ hervorstechen. Angaben zur Textüberlieferung und zu den Editionsprinzipien folgen. Auf die Edition selbst folgen fünf Anhänge: Bemerkungen zur Rolle Bernhards und Nikolaus' im Zweiten Kreuzzug (I), eine knappe Darstellung zur Affäre um den Bischof von Alet (II), der Versuch einer Klärung der Identität des in Brief 37 erwähnten Bischofs von Lucca (III), eine kurze inhaltliche Analyse des Briefwechsels zwischen Nikolaus und Peter von Celle (IV) und schließlich der lateinische Abdruck des Endes von Nikolaus' Brief 53, so wie er sich in der Texttradition des Peter von Celle wiederfindet. (V) Obwohl noch S. 264 auf einen Appendix VI verwiesen wird, fiel dieser wohl aus.

Als Sekretär Bernhards verfügte Nikolaus über das Privileg, private Korrespondenz(en) zu unterhalten: dies geschah vor allem in einer Zeit, als Bernhard, den Zweiten Kreuzzug predigend, für längere Perioden von Clairvaux abwesend war. Dieser Briefverkehr zeigt das persönliche Dilemma Nikolaus': als Zisterzienser war er von einer strengen Lebensführung überzeugt, unterhielt jedoch weiterhin Freundschaften, die so eng waren, dass Zweifel daran bestehen, wem er im Konfliktfall den Vorrang eingeräumt hätte. Nikolaus zeigt, dass es nicht allein Bernhard war, auf dem das "zisterziensische Experiment" fußte: "Nicolas offers a more nuanced picture of Clairvaux as a community shaped and influenced by many of its members." (lxvi) In den Briefen tritt dem Leser ein durchaus selbstbewusster Autor entgegen, "a small-scale Bernard, whose role as a mentor and missionary could potentially change the world." (lxxxi)

Rund 70 Briefe aus der Feder Nikolaus' sind überliefert, rund die Hälfte unter seinem eigenen Namen, der Rest verfasst im Namen anderer. Erhalten sind sie als Teil zweier Briefsammlungen (zur Texttradition wird das Nötige auf S. lxxxi-xc gesagt). Die früheste und umfangreichste Sammlung ist diejenige, der die Editorin den Namen "Clairvaux" gegeben hat - ediert wurde sie bereits von Jean Picard im 17. Jahrhundert, um dann von Migne in seine Patrologia Latina (Bd. CXCVI) übernommen zu werden. Sie besteht aus 53 Briefen, die sich auf die Zeit kurz vor dem Eintritt Nikolaus' in Clairvaux und seine Zeit daselbst datieren lassen - damit reduziert sich der behandelte Zeitraum auf zwei bis drei Jahre in den späten 1140er Jahren. Der terminus post quem ergibt sich dabei aus der Widmung an Heinrich von Frankreich als Mönch von Clairvaux (erst 1149 wurde dieser Bischof von Beauvais).

Die zweite Sammlung mit dem Titel "Champagne" (weil dem Grafen der Champagne gewidmet) ist kleiner und besteht nur aus einer Handvoll Briefen und einigen exordia - zehn Briefe insgesamt, davon fünf vollständig, fünf als Indexeinträge. Entstanden ist sie wohl um 1160.

Nikolaus pflegt einen blumigen Sprachstil voller Bilder, Wortspiele und Lautmalereien. Der Cursus mit einem deutlichen Übergewicht der Formen des cursus planus (íllum dedúcit) und cursus velox (hóminem recepístis) ist omnipräsent.

Die Bedeutung der Briefe Nikolaus ist kaum zu überschätzen, zeichnen sie doch ein Bild von Clairvaux, das sich deutlich von dem unterscheidet, was in denjenigen Bernhards zu finden ist. Doch sind es bezeichnenderweise noch immer die aus Bernhards Briefen geschöpften Informationen, die maßgeblich das mitbestimmen, was über Clairvaux gedacht und geschrieben wird. Der Editorin ist es wichtig zu betonen, dass Nikolaus' Horizont nicht allein von der Gestalt Bernhards dominiert wurde. Es gab offensichtlich auch andere, denen Clairvaux am Herzen lag und die alles daran setzen wollten, um am Aufbau des Klosters mitzuwirken. Nikolaus bekennt (ep. 46): Clarevallis in ore, Clarevallis in corde, Clarevallis in toto, Clarevallis in partibus mecum manet, mecum perseverat, nunquam recedit a me.

Die nun in mustergültiger Edition samt englischer Übersetzung vorliegenden Briefe haben ein breites Lesepublikum verdient. Tolle et lege.

Rezension über:

Lena Wahlgren-Smith (ed.): The Letter Collections of Nicholas of Clairvaux (= Oxford Medieval Texts), Oxford: Oxford University Press 2018, XCVII + 325 S., ISBN 978-0-19-967151-9, GBP 95,00

Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Lena Wahlgren-Smith (ed.): The Letter Collections of Nicholas of Clairvaux, Oxford: Oxford University Press 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/04/31913.html


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