sehepunkte 19 (2019), Nr. 2

Hans-Martin Kirn: Geschichte des Christentums IV,1

In der aus Einführungs- und Überblicksdarstellungen bestehenden Reihe "Theologische Wissenschaft" ist mit dem vorliegenden Band der erste von insgesamt dreien erschienen, die an die Stelle des in seiner Anlage noch aus den 1970er-Jahren stammenden, in seiner ökumenischen und internationalen Perspektive aber durchaus verdienstvollen Bandes von Hans-Walter Krumwiede zum 17.-20. Jahrhundert [1] treten sollen. Es handelt sich dabei um den ersten von zwei Teilbänden aus der Feder des Groninger Kirchenhistorikers Hans-Martin Kirn, der im Anschluss an den in der Reihe voran stehenden Band von Gottfried Seebaß [2] die dort eingeführten Begriffe der "Konfessionalisierung" und des "Konfessionellen Zeitalters" mit eigenen Akzentuierungen weiterführt. Folgen soll ein zweiter Teilband mit dem Schwerpunkt "Pietismus und Aufklärung". [3] Dabei sind die titelgebenden Schlagworte für Kirn nicht im Sinne einer strengen Abfolge epochaler Einheiten zu verstehen, sondern als "kirchen- und christentumsgeschichtlich relevante Sinneinheiten, d. h. [...] in sich plurale Lebens- und Denkwelten des 17. und 18. Jahrhunderts, die in vielfältiger Wechselwirkung miteinander standen und nur in der Zusammenschau ein Gesamtbild des frühneuzeitlichen Christentums auf dem Weg in die Moderne geben" (9). Auch wenn eine Zusammenschau des Gesamtentwurfs damit erst mit dem Erscheinen des für 2019 angekündigten zweiten Teilbands möglich sein wird, sind auch im vorliegenden die Verknüpfungen und Verflechtungen vielerorts angedeutet.

Der Band ist untergliedert in neun materiale Kapitel, denen Reflexionen zur Bedeutung des Begriffs des "Konfessionellen Zeitalters" und eine Einführung in die Forschungsgeschichte vorgeschaltet sind. Die ersten drei der neun Kapitel widmen sich unter den Stichworten der "Konfessionslandschaften", der "Gesellschaftliche[n] Rahmenbedingungen" und der "Konfessionskulturen- und gesellschaften" allgemeinen Fragen, während die restlichen sechs Kapitel einzelnen religiösen Formationen gewidmet sind ("Luthertum", "Reformiertentum", "Church of England", "Römischer Katholizismus", "Religiöser Nonkonformismus", "Judentum"). Orts-, Personen- und Sachregister beschließen den Band.

Mit seiner Darstellung bewegt sich Kirn in einem Forschungskontext, der in den letzten 30 Jahren von der Diskussion des Konfessionalisierungsparadigmas und seiner Reichweite bestimmt gewesen ist, aber auch bezüglich der noch zu integrierenden Phänomene von Pietismus und Aufklärung kontroversen Gehalt hat (so optiert Kirn etwa auch für eine frömmigkeitstypologische Verwendung des Pietismusbegriffs). In seinem forschungsgeschichtlichen Überblick gibt Kirn der älteren Forschung starkes Gewicht und greift differenziert das neuere Konzept der Konfessionskulturen und -gesellschaften auf. Wegen der nach den formalen Vorgaben der Reihe nicht vorgesehenen Anmerkungen bzw. nur spärlichen Literaturangaben im Text ist die konkrete Verankerung in der Forschungslandschaft allein anhand der gelegentlichen Literaturlisten auch in anderen Teilen des Buches eher erschwert.

In seinem Zugriff zeigt Kirn sowohl Offenheit gegenüber kulturgeschichtlichen Zugängen als auch Versiertheit bezüglich ideengeschichtlichen Nuancierungen, die sich vor allem in den umfänglichen Darlegungen zur Theologiegeschichte spiegeln. Auf diese Weise entsteht ein vielfältiges und kenntnisreiches Bild unterschiedlicher konfessioneller Räume und Kulturen, das von alltagskulturellen Beobachtungen - etwa zu vestimentären Konventionen - bis zu den Feinheiten akademisch-theologischer Auseinandersetzung reicht. Was dabei deutlich wird, ist, dass die konfessionellen Räume keinesfalls geschlossene Räume waren, sondern dass es Austausch- und Transferprozesse über konfessionelle Grenzen hinweg gegeben hat. Fragen der Exklusion und Inklusion, der religiösen Devianz, der Fremd- und Selbstwahrnehmung treten als wesentliche Motoren der Entwicklung hervor. Diese Offenheit für Dynamiken und für Fluidität spiegelt sich auch in der Gewichtung subversiver und nonkonformistischer Strömungen als Dynamisierungsfaktoren, die den Selbstverständigungsprozess über die Grenzen des eigenen konfessionellen Rahmens und auch die Deutekategorie dessen, was als "orthodox" und was als "heterodox" zu gelten habe, befördert haben. So ist dem religiösen Nonkonformismus im Rahmen der konfessionskulturell angelegten Kapitel auch eine eigene Darstellung gewidmet, in der exemplarisch einzelne Strömungen vorgestellt werden, das bisherige Schema konfessionskultureller Darstellung aber verlassen wird. Gerade für das Täufertum und die Böhmischen Brüder wäre eine Darstellung nach den gleichen Parametern (Ämter und Institutionen, kirchliches Leben und religiöse Praxis, theologische Positionen und Konflikte, Reformbewegungen, kulturelle Praxis etc.) aber durchaus reizvoll, zumal für das Täufertum ja durchaus Konfessionalisierungstendenzen konzediert werden.

Eine Besonderheit, die diesen Band auszeichnet, ist die Einbeziehung des Judentums in die zeitgenössischen religionskulturellen Entwicklungen, was seinen Niederschlag auch in einem eigenen den Band abschließenden Kapitel gefunden hat. Dessen letzter Passus formuliert als eine Art Doppelpunkt die These, dass - wie Pietismus, Jansenismus und Quietismus auf je ihre Weise - auch der Chassidismus "die Erfahrung der Entfremdung von der sich gegen die substantielle Integration der eigenen Anliegen wehrenden Orthodoxie" (333) gemacht habe.

Die Breite der von Kirn eingebrachten Perspektiven in frömmigkeitlicher, struktureller und theologischer Hinsicht beeindruckt und fördert immer wieder wenig bekannte Aspekte - etwa die der Idee nach bereits in den 1620er-Jahren bei P. Tarnow begegnenden collationes scripturae - zutage. Die Vielfalt des Materials führt in weiten Teilen zu einer eher kompendienhaften Darstellung; ein einliniges, teleologisches Narrativ würde aber auch nicht der Anlage des Bandes entsprechen. Natürlich ließen sich Einzelheiten diskutieren - etwa, ob terminologisch nicht klarer zwischen egalitäre Freiheitsrechte einfordernden Religionsfreiheits- und elitäre Herrschaftsrechte reflektierenden Toleranzdiskursen unterschieden werden müsste -, aber das tut dem gelungenen Entwurf dieses Bandes keinen Abbruch.

Während in der ursprünglichen Anlage der Reihe mit dem Band von Krumwiede ein Werk von knapp 300 Seiten für den Zeitraum vom 17. bis zum 20. Jahrhundert vorgesehen war, werden für denselben Zeitraum künftig drei Bände mit um die 1.000 Seiten zur Verfügung stehen. Was den professionellen Kirchenhistoriker freut - zumal wenn die Bände sich auf dem Niveau des vorliegenden bewegen -, mag die laut Untertitel "in Studium und Beruf" stehenden eigentlichen Adressaten der Reihe mitunter fragen lassen, ob es sich bei all dem tatsächlich um "Grundlagenwissen" handelt, das zu vermitteln die Reihe einmal angetreten ist. Der Band geht sicher darüber hinaus, erschließt aber gerade dadurch neue Perspektiven.


Anmerkungen:

[1] Hans-Walter Krumwiede: Geschichte des Christentums III. Neuzeit: 17. bis 20. Jahrhundert (= Theologische Wissenschaft; Bd. 8), 2. Aufl., Stuttgart 1987.

[2] Gottfried Seebaß: Geschichte des Christentums III. Spätmittelalter - Reformation - Konfessionalisierung (= Theologische Wissenschaft; Bd. 7), Stuttgart 2006.

[3] Geplant bzw. angekündigt sind: Hans-Martin Kirn / Adolf Martin Ritter: Geschichte des Christentums IV,2. Pietismus und Aufklärung (= Theologische Wissenschaft; Bd. 8,2); Klaus Fitschen / Adolf Martin Ritter: Geschichte des Christentums V. 19. und 20. Jahrhundert (= Theologische Wissenschaft; Bd. 8,3).

Rezension über:

Hans-Martin Kirn: Geschichte des Christentums IV,1. Konfessionelles Zeitalter (= Theologische Wissenschaft. Sammelwerk für Studium und Beruf; Bd. 8.1), Stuttgart: W. Kohlhammer 2018, 358 S., eine Kt., ISBN 978-3-17-031034-6, EUR 39,00

Rezension von:
Thomas Hahn-Bruckart
Evangelisch-theologische Fakultät, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Hahn-Bruckart: Rezension von: Hans-Martin Kirn: Geschichte des Christentums IV,1. Konfessionelles Zeitalter, Stuttgart: W. Kohlhammer 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 2 [15.02.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/02/31787.html


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