sehepunkte 19 (2019), Nr. 1

Marc L.F. van Berkel: Plotlines of Victimhood

Marc van Berkel gelingt mit "Plotlines of Victimhood" eine aufschlussreiche vergleichende Studie über die Darstellung des Holocaust in deutschen und niederländischen Schulbüchern für weiterführende Jahrgänge. Angeregt von Erkenntnissen über den Einfluss und die Autorität von Geschichtsschulbüchern in Bezug auf das Wissen niederländischer Lernender über Deutschland (9) stellt van Berkel die These auf, Geschichtsschulbücher seien Ausdruck des Geschichtsbewusstseins einer Gesellschaft.

Van Berkel verfolgt das Ziel, Kontinuitäten und Brüche in den Holocaust-Narrativen in nordrhein-westfälischen und niederländischen Geschichtsschulbüchern zu erforschen. Welche Erzählstränge über Opfer des Holocaust gibt es in (west-)deutschen und niederländischen Geschichtslehrwerken zwischen 1960 und 2010 und wie lassen sich mögliche Veränderungen in den narrativen Darstellungen erklären? Zur Beantwortung dieser leitenden Forschungsfrage erhebt er anhand von 32 Lehrwerken mittels einer quantitativen und qualitativen Analyse Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Fakten und Kontextualisierung des Holocaust, die Frage des Einflusses akademischer Debatten über den Holocaust und den Zusammenhang didaktischer Entwicklungen mit Veränderungen narrativer Handlungsstränge in deutschen und niederländischen Geschichtsbüchern. Für den Vergleich mit den Niederlanden wählt van Berkel, aufgrund der Nähe und Größe, Nordrhein-Westfalen als Bundesland aus.

Van Berkels Behauptung, eine systematische, vergleichende und eingehende Studie der Entwicklung der dominanten Perspektiven des Holocaust in Schulgeschichtsbüchern existiere bislang nicht, ist zu widersprechen. Denn etwa zeitgleich sind Dissertationen zur Holocaust-Darstellung in Schulbüchern im internationalen Vergleich erschienen. [1] Bereits 1997 hat Matthias Heyl die Kontextualisierung, Darstellung und Einbettung des Holocaust in Schulbüchern in West-Deutschland und den Niederlanden analysiert. [2]

In der Einleitung erläutert van Berkel den theoretischen und methodischen Rahmen. Er will aufzeigen, wie öffentliche Diskurse die Art und Weise beeinflussen, in der die Nachkriegsgesellschaften in Westdeutschland und den Niederlanden mit der Geschichte des Holocaust umgegangen sind. Ein Vergleich der Bildungsinfrastruktur soll zudem Aufschluss darüber geben, wie nationale und transnationale Holocaust-Narrative durch Darstellungen in Geschichtsbüchern zusammenhängen. Von Zerubavel inspiriert, verwendet van Berkel "plotlines" (Handlungs- / Erzählstränge) als zentrales Konzept.

Im zweiten Kapitel stellt er die deutschen und niederländischen Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sowie den Wandel in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust dar. Er begründet überzeugend sein weites Verständnis des Begriffs Holocaust, der für ihn auf alle diskriminierenden, rassistischen und mörderischen Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen europäische Juden und andere Opfergruppen zwischen 1933 und 1945 verweist (65). Die Erläuterungen zur Bildungspolitik in Kapitel drei enthalten hingegen generalisierende und nicht mehr aktuelle Aussagen über die - für einen Außenstehenden schwer verständliche - komplexe föderale Bildungslandschaft in Deutschland (110). Die Ausführungen zur Thematisierung des Zweiten Weltkriegs und Holocaust machen die Unterschiede zwischen Deutschland und den Niederlanden deutlich: Während deutsche Geschichtsschulbücher sich patriotischer oder nationalistischer Töne enthalten und den Fokus auf Demokratisierung, Europäisierung, Menschenrechte und Pazifismus aus deutscher Perspektive legen (129), dominiert die nationale Perspektive in den niederländischen Lehrwerken (132).

Die Schulbuchanalyse in den Kapiteln vier und fünf bildet den Kern der empirischen Studie. Van Berkel kommt zu dem Ergebnis, dass in den Lehrwerken zwischen 1960 und 1980 die Komplexität des Holocaust, die gut durch Fachwissenschaft, Literatur und Dokumentationen belegt war, ignoriert wird. Zudem beklagt er fehlerhafte faktische Angaben. Da das europäische Judentum nicht historisch kontextualisiert, alltägliches jüdisches Leben vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht thematisiert werde und die Täterperspektive in schriftlichen und ikonografischen Quellen nach wie vor dominant in den untersuchten Lehrwerken sei, erscheinen Juden als homogene, gesichts- und wehrlose Opfergruppe. In der narrativen Struktur zeigen sich deutliche Unterschiede: in den deutschen Lehrwerken dominieren zwischen 1960 und 1980 "rise-fall-plotlines", das heißt, die Darstellung erzählt den Wandel von einer kulturell zivilisierten Nation zu einem mörderischen Regime. In späteren Lehrbüchern dominiere das "Zickzack"-Narrativ, eine Kombination von aufwärts und abwärts gerichteten Handlungssträngen, die sowohl den Aufschwung nach 1945 als auch die Last einer fortdauernden Präsenz des Nationalsozialismus für Gesellschaft und Bildung beinhalte (341). In den niederländischen Geschichtsbüchern ist das "fall-rise"-Narrativ während der gesamten Forschungszeit präsent: Ein unabhängiges Land wurde besetzt, die Bevölkerung litt unter Unterdrückung, erlangte aber die nationale Souveränität und Zivilisation zurück. Die Verfolgung der niederländischen Juden wird für ein nationales Narrativ über den heroischen Widerstand gegen die Besatzer benutzt. Die Rolle der Zuschauer wird in den untersuchten Lehrwerken beider Länder kaum thematisiert.

Auch wenn die Darstellung des Holocaust zwischen 1980 und 2010 größere Aufmerksamkeit in den niederländischen und NRW-Lehrwerken erfährt als zuvor, moniert van Berkel die einseitige westeuropäische Perspektive auf den Holocaust und die Fokussierung auf Auschwitz als zentralem Referenzrahmen. Gerade vor dem Hintergrund, dass circa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung aus den Niederlanden nach Sobibor deportiert und dort ermordet wurde, ist diese Vernachlässigung nicht nachvollziehbar.

Die abschließenden Forderungen van Berkels in Bezug auf Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität als Voraussetzungen zur Dekonstruktion nationaler Narrative sowie nach mehr Forschung zur Nutzung von Lehrwerken im Geschichtsunterricht im internationalen Vergleich sind zu begrüßen. Seine Empfehlung einer engeren Kooperation zwischen Schulbuchautoren, Wissenschaftlern und Verlagen ist nachvollziehbar, aber unter Berücksichtigung des Zeitdrucks bei der Schulbuchproduktion etwas realitätsfern.

Van Berkels Dissertation konturiert im Rahmen der internationalen Schulbuchforschung klar die Defizite in der Darstellung des Holocaust, der anstatt faktisch repräsentiert, dekontextualisiert und zu einem Symbol des Bösen und der Unmenschlichkeit moralisch-normativ aufgeladen wird. Er belegt pointiert, dass den niederländischen und deutschen Opfern immer noch mehr Aufmerksamkeit in den untersuchten Lehrwerken beider Länder gewidmet wird als der Darstellung des individuellen jüdischen Leidens im Holocaust. Für eine Neukonzeption niederländischer und deutscher Geschichtsschulbücher besteht also Handlungsbedarf.


Anmerkungen:

[1] Wolfgang Bilewicz: Der Holocaust in Schulbüchern und Lehrplänen: Ein historisch-pädagogischer Vergleich zwischen Bayern und Österreich, Marburg 2016; Philipp Mittnik: Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Deutsche, österreichische und englische Lehrwerke im Vergleich, Schwalbach / Ts. 2017.

[2] Matthias Heyl: Erziehung nach Auschwitz. Eine Bestandsaufnahme: Deutschland, Niederlande, Israel, USA, Hamburg 1997.

Rezension über:

Marc L.F. van Berkel: Plotlines of Victimhood. The Holocaust in German and Dutch history textbooks, 1920-2010, Rotterdam: Erasmus University 2017, 318 S., hdl.handle.net/1765/100839

Rezension von:
Eva Lettermann
Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung, Paderborn
Empfohlene Zitierweise:
Eva Lettermann: Rezension von: Marc L.F. van Berkel: Plotlines of Victimhood. The Holocaust in German and Dutch history textbooks, 1920-2010, Rotterdam: Erasmus University 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 1 [15.01.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/01/32733.html


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