sehepunkte 18 (2018), Nr. 12

Rolf Petri: A Short History of Western Ideology

In der von J.R.R. Tolkien geschaffenen Parallelwelt von 'Mittelerde', diesem komplexesten Mythensystem der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts, ist die kulturelle und moralische Überlegenheit aller Wesen des 'Westens' ein durchgängiges Motiv. Nùmenor oder Westernesse wird von einem besonders edlen und hochstehenden Menschengeschlecht bewohnt, und die gottgleichen Valar gar weilen im äußersten, mythenverhangenen Okzident der Welt, dort, wohin auch die Elben, den Menschen verwandte, aber unsterbliche Wesen von besonderer Reinheit, sich zurückziehen dürfen in eine Art nirwanesken Erlösungsraum, als ihr Zeitalter auf Erden abgelaufen ist. Valar, Elben und Nùmenorians sind es auch, die in Tolkiens Kosmos gemeinsam das Ewig-Böse bekämpfen und so, oft unter großen Opfern, dem Weltenheil dienen.

Nun ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich in dem hier anzuzeigenden wissenschaftlichen Werk nicht einmal ein augenzwinkernder Hinweis auf das literarische Reich der Valar, Elben und Dùnedain findet. Augenfällig ist gleichwohl die Analogie zwischen Tolkiens zentralem Mythologem und der Kernthese Rolf Petris. Diese - zustimmend zitierend von John Gray übernommen - lautet: Was den 'Westen' ausmacht und wodurch dieser sich selbst definiert, "is the pursuit of salvation in history. It is historical teleology - the belief that history has a built-in purpose or goal - rather than traditions of democracy or tolerance, that sets western civilization apart from all others" (1). Mit dieser Geschichtsteleologie geht die Selbstzuschreibung der Rolle eines Salvator Mundi einher, aus der der 'Westen' in missionarischer Prätention seine Politik der Expansion und Intervention, Eroberung und Überwältigung gegenüber anderen Kulturen legitimiert. Um die Validität dieser These aufzuweisen, durchmisst Petri in einer veritablen tour de force die 'westliche' Ideengeschichte gewissermaßen From Plato to NATO und greift damit unausgesprochen das Interpretationsmuster eines einheitlichen und über zweieinhalb Jahrtausende in seinem Wesenskern konstanten Westens wieder auf, das David Gress in seinem einflussreichen Buch mit diesem suggestiven Titel verworfen hatte. [1] Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen westlicher Ideologie besteht freilich darin, dass die von Gress dekonstruierte liberal-demokratische 'Grand Narrative' der amerikanischen Eliten und ihrer europäischen Vasallen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr konstitutives Element in der Idee der 'Freiheit' hatte, wohingegen Petris 'Westen' durch die universalistische Eschatologie seiner Geschichtsauffassung und die daraus resultierenden Imperative und Ermächtigungen für ein die Geschicke der Welt zum 'Heil' führendes Eingreifen definiert ist.

Dieses Postulat erleichtert in gewisser Weise die anspruchsvolle Operation, den 'Westen' von der europäischen Antike über das christliche Abendland bis zur europäischen Expansion der Frühen Neuzeit und weiter über die Aufklärung, das aufsteigende puritanisch-evangelikale Amerika und das revolutionäre Frankreich bis zu den Imperialismen des späten 19. Jahrhunderts und endlich dem von den USA geführten transatlantischen Machtkomplex der NATO als ein einziges, in seinen inneren Bewegungsgesetzen konstantes Subjekt der Geschichte zu denken. Das als wesensbestimmend gesetzte Kriterium heilsgeschichtlicher Grundrichtung 'westlicher' Weltsicht zwingt aber auch zu dezisionistischen Annahmen: So etwa, wenn der Islam, unbestreitbar nicht weniger eschatologisch fundiert als Christentum und Judentum, wiederum unter Berufung auf John Gray dem 'Westen' zugeschlagen wird (15), um so die Eschatologie als genuin 'westliches' Proprium zu retten. Wer wie Gray und Petri im Monotheismus der abrahamitischen Religionsfamilie die Wurzel des politischen Wesenskerns des 'Westens' ausmacht, mag das so sehen. Aber wird, so möchte man doch fragen, das Konzept eines 'Westens', dem auch der islamische Orient subsumiert wird, nicht vollends überdehnt? Kann ein solcher 'Westen' noch als Handlungseinheit begriffen werden? Und wäre nach dieser Logik nicht auch Russland, das ja zweifelsfrei dem christlichen Kulturkreis angehört, dem 'Westen' zuzurechnen? Ähnlich wie die aktuelle Konfrontation zwischen dem 'Westen' und dem 'Islam' wäre die aggressiv anti-russische Haltung des 'Westens' nur mit einem dialektischen Überschlag zu erklären.

Methodisch macht Petri den Kanon der 'großen Denker' der politischen Philosophie zur Basis seiner Analyse von Selbstbeschreibung und Selbstvergewisserung des 'Westens'. Auch damit steht er in Opposition zu Gress. Petri will freilich die "great thinkers" nicht als 'Demiurgen kollektiver Ideologien' betrachtet wissen. Das Studium intellektueller Wortführer rechtfertigt sich für ihn vielmehr aus deren kommunikativer Kompetenz, also der Fähigkeit, Ideen ihrer Zeit, die gleichsam 'in der Luft lagen', aufzugreifen, in vermittelbarer Form auszuprägen und so ihrer Wirkung einen Echoraum zu schaffen (7f.). Was schließlich 'Ideologie' als analytischen Leitbegriff des Buches anlangt, erläutert unser Autor, sein Verständnis davon sei "particularly close" zu einer Feststellung Bob Hodge's, derzufolge Ideologie "identifies a unitary object that incorporates complex sets of meanings with the social agents und processes that produced them". In diesem Sinne sei das Konzept der 'Ideologie' funktional verwandten Begriffen wie Foucaults 'Episteme' oder auch 'Diskurs' ebenso vorzuziehen wie etwa den Termini 'Weltsicht' oder 'Propaganda' (4f.).

Wer die Entfaltung des Petrischen Interpretationsansatzes einer Ideen- oder respektive Ideologiegeschichte des Westens in den fünf Großkapiteln dieses aspektereichen Buches nachvollzieht, wird, auch wenn er die Positionen des Autors nicht immer teilen mag, beeindruckt sein von der analytischen Schärfe, der intellektuellen Kohärenz und der argumentativen Stringenz der Darstellung. Diese bietet eine ebenso schonungslose wie überzeugende Kritik der aus der Ideologie des Westens resultierenden Politik des Westens, einer Politik der stets dissimulatorisch die 'Freiheit' und die 'universalen Menschenrechte' in ihrem Propagandabanner führenden Interventionismen der westlich-transatlantischen Mächte gegenüber jenen Teilen der Welt, denen man sich moralisch und zivilisatorisch überlegen dünkt. Man mag es schade finden, dass Petri auf die offene Auseinandersetzung mit David Gress verzichtet hat; denn die globale Interventionspolitik des 'Westens' gerade in den zwei Jahrzehnten, die seit dem Erscheinen von Gress' Buch 1998 vergangen sind, lieferte den schlagenden Beweis, dass dessen Bild von der 'Idee des Westens' der Tendenz nach apologetisch und in der Wirkung affirmativ war.

Bedauern wird man aus der Sicht des deutschen Publikums, dass dieses überaus anregende Buch (vorerst) nur in englischer Sprache vorliegt. Selbst wer ein differenziertes Englisch beherrscht, tut sich nicht auf Anhieb leicht mit diesem Text. Der Blick auf die breit ausfächernde Literaturbasis macht indes klar, warum die Entscheidung für das Englische fiel. Deutsche Autoren haben zum Thema bislang kaum Nennenswertes beigetragen. Deutschland, dessen Intellektuelle lieber in der Meute laufen, ist ohnehin nicht der Ort für kreativ-kontroverse Debatten dieser Art. Umso mehr muss man wünschen, dass dieses denkerisch mutige Werk, das in einer düsteren Vision ausklingt, auch in der fremden Sprache viele deutsche Leser findet.


Anmerkung:

[1] David Gress: From Plato to NATO. The Idea of the West and Its Opponents. New York u.a. 1998.

Rezension über:

Rolf Petri: A Short History of Western Ideology. A Critical Account, London: Bloomsbury 2018, VIII + 243 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-1-350-02610-0, GBP 22,99

Rezension von:
Franz J. Bauer
Regensburg
Empfohlene Zitierweise:
Franz J. Bauer: Rezension von: Rolf Petri: A Short History of Western Ideology. A Critical Account, London: Bloomsbury 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 12 [15.12.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/12/31695.html


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