sehepunkte 18 (2018), Nr. 12

Jürgen Nielsen-Sikora: Hans Jonas

"Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten und menschlichen Lebens auf Erden" (219). So lautet der zentrale Leitsatz des 1979 erschienenen Werks "Prinzip Verantwortung" [1] von Hans Jonas, einem lange unterschätzten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ihm ging es um eine lebenswerte Zukunft und Pragmatik, die Katastrophen verhindern könnte. Er entwickelte eine Philosophie, die von einer "Heuristik der Furcht" ausgehen und durch Denkexperimente imaginative Kasuistik Szenarien veranschaulichen sollte, um unbekannte Risiken und Nebenwirkungen kollektiven Handelns zu erkennen (227).

Das Buch gliedert sich in zwei große Bereiche ("Leben" und "Das Werk in der Diskussion"). Zunächst schildert Nielsen-Sikora Hans Jonas' bewegte Biographie, die hier nur stichpunktartig wiederzugeben ist: Geboren 1903 im niederrheinischen Mönchengladbach als Sohn des Leinenwebereibesitzers Gustav Jonas und der Rosa Horowitz, machte der 1914 Kriegsbegeisterte sieben Jahre später sein Abitur. Beflügelt durch Martin Bubers "Drei Reden über das Judentum" wird er überzeugt vom Zionismus, obwohl ihm früh bewusst wird, dass dieser sich über die bedrängten palästinensischen Araber hinwegsetzt und ihre Ungleichbehandlung eine Hypothek für das neu verheißene Gemeinwesen sein wird. Es folgen Studien an den Universitäten in Freiburg, Berlin und Marburg und Bekanntschaften mit Günther Anders, Hannah Arendt, Dolf Sternberger und Leo Strauss sowie die Promotion bei Martin Heidegger, von dem er sich später inhaltlich absetzt. Früh befasst sich Jonas mit Fragen der Gnosis. Nach Arbeit als Kommanditist im väterlichen Unternehmen emigriert er 1933 nach London, übersiedelt nach Palästina und kämpft in der jüdischen Untergrundarmee Haganah. Die Mutter wird in Auschwitz 1942 ermordet, während Jonas schon in der British Army in Ägypten, Zypern und Italien eingesetzt ist und am Ende als Soldat einer jüdischen Brigade kämpft. Aus der 1943 geschlossenen Ehe mit Lore Weiner gehen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Auf eine kurze Rückkehr nach Deutschland folgt ein erneuter Kampfeinsatz im israelisch-arabischen Krieg, wo ihm die Problematik deutlich wird, auf Grundlage einer Religion 1948 einen Nationalstaat zu gründen. Nach einem Stipendium in Montreal 1949/50 wird er Professor für Philosophie in Ottawa, seit 1955 in New York. In den USA freut Jonas besonders, dass keine offiziellen Lehrmeinungen herrschen und wirkliche Freiheit im akademischen Denken gegeben ist, auch wenn seine Familie und er sich in New York nie ganz wohlfühlen. Im Laufe der 1960er Jahre kombiniert er biologische, theologische und soziologische Bausteine in seinem philosophischen Werk, wobei er die Teleologie von Aristoteles, die Existenzphilosophie Heideggers und die Phänomenologie Husserls weiter ausbaut. Ehrendoktorate an den Universitäten in Bamberg, Konstanz, an der FU Berlin und am Hebrew Union College folgen. Seine Heimatstadt erkennt nicht nur viel zu spät den internationalen Marktwert des mehrfachen deutschen Fußballmeisters der 1970er Jahre Borussia, sondern auch erst 1988 das Jahrhundertwerk ihres großen Philosophen. Noch der 80. Geburtstag von Jonas fand in Mönchengladbach nirgendwo Erwähnung. Seine Emeritierung erfolgte 1976 und der Tod 1993 in New York.

Jürgen Nielsen-Sikora hat diese Biographie ausgewogen, einfühlsam und umsichtig nachgezeichnet. Das Gleiche kann auch für Jonas' Philosophie gesagt werden, die der Autor im zweiten Teil in fein gegliederten Unterkapiteln verständlich und überzeugend in ihrer themenbezogenen Differenzierung und sachlogischen Ausführung rekonstruiert.

So abwechslungsreich, couragiert, engagiert und risikoreich das Leben von Jonas war, so ist seine Philosophie dennoch von viel Bedenken, Behutsamkeit und Vorsicht geprägt. Stets kalkulierte er die radikale Möglichkeit ein, wonach das Schöpfungsexperiment Gottes scheitern könnte. Holocaust und Hiroshima bedeuteten Zäsuren für seine Reflexionen. Fortschritt und Ethik seien immer zwei Seiten derselben Medaille. Ab 1978 engagiert Jonas sich für die "Peace now"-Bewegung in Israel, deren Anliegen ein Gespräch aller Konfliktparteien ist. Im Orwell-Jahr 1984 geht es um die Sinnhaftigkeit des Gottesbegriffs nach Auschwitz, verbunden mit der Einsicht vom Verlust der Allmächtigkeit des Allmächtigen.

Dem marxistischen Zeitgeist der 1968er kann Jonas nur wenig abgewinnen. Mit dem Philosophen Ernst Bloch rechnet er ab. Die sozialistische Utopie hält er anfällig für Fanatismus. Theorie und Praxis klafften zu weit auseinander. Die blinde Technologiebewunderung des Marxismus trage das Ihre dazu bei. Die Transformation zum Sozialstaat habe die Revolution obsolet gemacht.

Seit den 1970er Jahren entwickelte sich Jonas zum Vorreiter der Nachhaltigkeit. Die Unterwerfung der Natur habe vor der Unterwerfung des Menschen durch den Menschen nicht Halt gemacht. Mensch und Natur seien untrennbar verbunden. Ihre Eigenwürde sei seiner Willkür entgegenzuhalten. Die Folgen kollektiven Handelns habe, so Jonas, noch keine Theorie ausreichend durchdacht. Die klassische Ethik von Aristoteles bis Kant sei darauf nicht genügend eingegangen. Ausgehend von der Ehrfurcht vor einem Sittengesetz bezog sich dessen kategorischer Imperativ noch auf das individuelle Tun, während der kategorische Imperativ von Jonas auf das Sein ausgerichtet und durch metaphysische Überlegungen zu rechtfertigen ist. Kants Formel laufe auf eine Selbstbeschränkung der Freiheit hinaus, die jedoch laut Jonas notwendig zur Bewahrung des Seins der Natur sei. Durch die Macht seiner Handlungsmöglichkeiten werde der Mensch zum "Sachwalter des Seinsollens", was Jonas "Zukunftsverantwortung" nennt. Er macht dabei auf die Gefahr der Unumkehrbarkeit von Handlungen hinsichtlich zerstörter Umwelt und die Kumulation von negativen Handlungsfolgen aufmerksam. Die unheimliche Machtfülle des Menschen und das Unwissen über Fernwirkungen seines Tuns erfüllten ihn mit Demut. Das Nichtexistente habe keine Lobby und "die Ungeborenen sind machtlos" (225). Bei der Begründung einer erweiterten Ethik könne man sich auf die schwindende Religion nicht mehr berufen. Die Folgewirkungen menschlichen Tuns aber abzuschätzen und angemessen darauf zu reagieren, mache erst Staatskunst aus. Wie jedoch diese Zukunftsverantwortung und daraus abgeleitete Handlungsnormen mit Handlungsstrategien umzusetzen sind, sei von Fall zu Fall zu entscheiden. Welche Entscheidungsträger es sein sollen und durch was sie legitimiert sind, bleibt offen. So sind die gegebenen und zukünftigen Entscheidungskulturen und -mechanismen erklärungsbedürftig.

Jonas trieb vor allem die Sorge um, dass die Demokratie die Zukunft menschlicher Existenz nicht vor Augen habe. Laut Vittorio Hösle habe Jonas erkannt, dass die gegenwärtige Demokratie "keine Repräsentation kommender Generationen" (296) kenne. Die Bewahrung der Natur für die Menschheit blieb Jonas' Anliegen. Sein Verdienst war es, laut Nielsen-Sikora, "eine ethische Debatte über die Zukunft des Menschen befeuert zu haben" (182), wofür Jonas 1987 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde.

Mehr hätte man gerne von diesem Vordenker einer interdisziplinären Umweltwissenschaft, wenn nicht sogar der Grünen und der Öko-Bewegung erfahren. Wie beurteilte Jonas die NATO-Nachrüstung? Welche Schlüsse zog er aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986? Wie stand Jonas zur deutschen Teilung bzw. zu Deutschlands Einheit 1990? Sah er sie vor dem Hintergrund des Schicksals seiner Familie als eine Strafe Gottes, wie es Günter Grass aussprach, der die Last der deutschen Geschichte so interpretierte, dass sie die "Wiedervereinigung" verbiete? Welche Träger seiner Verantwortungsethik sah er jenseits von Staat und Familie als Erziehungs- und Entscheidungsinstanzen? Wie verhielt sich sein Denken zu supranationalen Institutionen und internationalen Organisationen mit ihren (eingeschränkten) Problemlösungskapazitäten?

Die Quellen, auf denen Jonas' Gedankenwelt fußt, sind kaum alle nachvollziehbar, was eine weitere Befassung mit Hintergründen, Kontexten und Motiven seiner Briefwechsel erforderlich machen wird. Dieser harrt noch einer umfassenden Edition, womit die weit verzweigte Korrespondenz im Viereck Deutschland-Europa-USA-Israel ermessen wird. Die letztgenannten Koordinaten wurden ihm zur neuen Heimat.

Dem Verfasser dieser kompakten und gut lesbaren Studie ist es gelungen, auf Basis von diversem Archivmaterial, unter anderem des Nachlasses, der Kritischen Gesamtausgabe und seines Schrifttums, Biographie, zeitliche Kontexte, vor allem aber Darstellung, Analyse und Rezeption des Werks von Jonas gekonnt herausgearbeitet, gut kombiniert und zielgenau zusammengeführt zu haben, um damit eine auch breitere Leserschicht mit dessen Philosophie vertraut zu machen.


Anmerkung:

[1] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979.

Rezension über:

Jürgen Nielsen-Sikora: Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017, 343 S., ISBN 978-3-534-74319-3, EUR 49,95

Rezension von:
Michael Gehler
Hildesheim
Empfohlene Zitierweise:
Michael Gehler: Rezension von: Jürgen Nielsen-Sikora: Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 12 [15.12.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/12/30717.html


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