sehepunkte 18 (2018), Nr. 11

Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit

Julius Barmat wird in den Standardwerken zur Weimarer Republik nur selten erwähnt. Meist wird lediglich darauf verwiesen, dass Reichspräsident Friedrich Ebert eine dringend notwendige Operation aufschob und schließlich verstarb, weil er im Barmat-Skandal unter massiven politischen Druck geraten war. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich nicht um eine Biographie des staatenlosen polnisch-jüdischen Unternehmers Julius Barmat - ein derartiges Werk ist wegen des fehlenden Nachlasses und der oft sehr spärlichen Aktenlage nicht möglich. Stattdessen rekonstruiert Martin H. Geyer minutiös, wie unter den besonderen Bedingungen der Weimarer Republik öffentliche Skandale entstanden, beziehungsweise wie es interessierte Kreise vermochten, undurchsichtige ökonomische Ereignisse gezielt zu skandalisieren. Hierbei gelingt es ihm, eine präzise durchdachte Geschichte der ökonomischen Kultur und der Kultur des Kapitalismus der Zwischenkriegszeit zu schreiben.

Barmat kam aus Polen, ließ sich im Ersten Weltkrieg in den Niederlanden nieder und verdiente mit Schmuggelgeschäften zugunsten des Deutschen Reiches ein kleines Vermögen. Untypisch für einen Unternehmer knüpfte er enge Kontakte zur Sozialdemokratie und siedelte nach dem Ende des Krieges nach Deutschland über. Allerdings achteten die meisten sozialdemokratischen Politiker darauf, Distanz zu dem undurchsichtigen Aufsteiger zu halten. Geyer zeigt überzeugend, wie unter den extremen Bedingungen der Hyperinflation die Kategorien des ehrbaren Kaufmannes verschwammen: Oft war es unmöglich zu entscheiden, ob ein Geschäft gerade noch erlaubt und legal, oder sich schon im unerlaubten Bereich befand. In der Hyperinflation verschoben sich die ungeschriebenen moralischen Kriterien, und es ist auch heute noch schwer abzugrenzen, wo Täuschung, Betrug oder Korruption begannen. Barmat war in mehrerer Hinsicht die typische Figur eines Grenzgängers, der diese Bedingungen maximal für sich nutzte und ein Konglomerat von Firmen erwarb. Auch wenn die Details nicht klar sind, scheint er ein sehr reicher Mann geworden zu sein. Zugute kam ihm ein überzeugendes und joviales Auftreten, er sparte nicht mit teuren Einladungen sowie kleinen oder großen Präsenten an Menschen, die ihm nützlich sein konnten. Nach dem Beginn der Stabilisierung der Republik setzte Barmat aber auf das falsche Pferd. Statt seinen unübersichtlichen Konzern zu konsolidieren, spekulierte er auf einen weiteren Verfall der Währung, kaufte wahllos Firmen auf Kredit hinzu und musste konsequenterweise im Herbst 1924 Bankrott anmelden.

Für völkische und deutschnationale Kreise stellte Barmat die perfekte Inkarnation eines Feindbildes dar, und in gezielten Medienkampagnen, in denen es mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen wurde, wurde er bewusst skandalisiert: Der staatenlose Jude, der in der Inflation mit undurchsichtigen Geschäften ein Vermögen zusammenraffte, offenbar sehr gute Kontakte zu Regierungskreisen hatte und dann Bankrott anmeldete, entsprach in jeder Hinsicht dem Stereotyp des gewissenlosen Schiebers und Wucherers. Die Skandalisierung wurde zusätzlich vorangetrieben, als klar wurde, dass auch die Preußische Staatsbank und die Reichspost in die Affäre verstrickt waren. Viele dieser Geschäfte waren aber nicht die Folge von betrügerischen Absichten, sondern resultierten einfach aus ökonomischer Naivität, Leichtsinn oder Dummheit in einem extrem schwierigen wirtschaftlichen und politischen Umfeld, und sie wurden durch amateurhafte Kontrollmechanismen erleichtert. Die Kapitel, die sich mit dieser stark antisemitischen Skandalisierung beschäftigen, stellen eindeutig die stärksten Stellen des Buches dar: Mehrere sozialdemokratische Politiker gerieten angesichts der vehementen Pressekampagnen in eine unangenehme Defensivposition. Ferner traf sich die völkische antisemitische Kampagne in einer eigenartigen Weise mit einer antikapitalistischen Kampagne der KPD. Allerdings wurde Barmat 1928 nach einem Mammutprozess lediglich zu elf Monaten Gefängnis und zu einer Geldstrafe wegen Bestechung verurteilt, ein Urteil wegen Betruges blieb aus. Angesichts der massiv geschürten Emotionen und des sehr hohen Ermittlungsaufwandes war dieses Urteil fast ein Freispruch. Minutiös und theoretisch versiert arbeitet Geyer heraus, unter welchen Bedingungen und unter welchen Voraussetzungen diese politische Skandalisierung möglich war.

Nachdem Barmat Deutschland verlassen musste, ließ er sich nach 1929 zunächst in Belgien, dann in den Niederlanden nieder. Selbst vielen deutschen Spezialisten dürfte bisher nicht bekannt gewesen sein, dass er hier einen weiteren Skandal auslöste, der Belgien, die Niederlande, die Schweiz und Frankreich in Mitleidenschaft zog. Auch wenn es unmöglich ist, die Details seiner verschachtelten und bewusst undurchsichtigen Transaktionen nachzuvollziehen, ist doch klar, dass er diesmal - anders als zuvor in Deutschland - wirklich zahlreiche illegale Geschäfte, Luftbuchungen und betrügerische Transaktionen durchführte. Für die belgischen Faschisten unter Degrelle war dies ein gefundenes Fressen für offen antisemitische Attacken, und Ende 1937 musste wegen der Skandale sogar eine belgische Regierung zurücktreten. Die antisemitische Skandalisierung wiederholte sich. Wilde Thesen über eine jüdische Weltverschwörung hatten Konjunktur. Barmat wurde verhaftet und starb Anfang 1938 im Gefängnis, bevor sein Prozess begonnen hatte.

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um eine hervorragende, sehr gut recherchierte und detailreiche Studie zu einem wenig beachteten Aspekt nicht nur zur Weimarer Republik, sondern auch zur europäischen Geschichte. Das Buch ist in einem fast saloppen, aber stets präzisen Stil geschrieben und liest sich streckenweise fast so spannend wie ein Krimi. Auch wenn die Person Barmat - mangels Quellen - blass bleibt, hat der Autor ein breites Spektrum im Blick, das sich von der Wirtschafts- und Politikgeschichte bis hin zur Verarbeitung des Skandals in Literatur und Theater erstreckt. Im Bereich der Forschungen zu Skandalen und Skandalisierungen setzt die Arbeit sowohl inhaltlich als auch im theoretischen Bereich Maßstäbe. Kritisch ist lediglich anzumerken, dass die Studie ab etwa dem Ende des zweiten Drittels an Stringenz einbüßt. Manche Teile sind weitschweifig, Bezüge zu den eigentlichen Themen sind nicht mehr wirklich zu erkennen, auch kommt es immer wieder zu unnötigen Wiederholungen. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich um ein innovatives Buch handelt, das eine intensive Rezeption verdient.

Rezension über:

Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit. Oder: Wer war Julius Barmat?, Hamburg: Hamburger Edition 2018, 590 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-86854-319-3, EUR 40,00

Rezension von:
Boris Barth
Karls-Universität Prag
Empfohlene Zitierweise:
Boris Barth: Rezension von: Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit. Oder: Wer war Julius Barmat?, Hamburg: Hamburger Edition 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 11 [15.11.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/11/31984.html


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