sehepunkte 18 (2018), Nr. 6

Saverio Lomartire (a cura di): Il Crocifisso ottoniano di Vercelli

Im Oktober 1983 erlitt das monumentale silberne Kruzifix der Kathedrale im piemontesischen Vercelli infolge eines versuchten Diebstahls Schäden, die fast irreparabel erschienen. Unbekannte hatten große Teile der hauchdünnen Silberfolie, aus der das Kruzifix gefertigt ist, herabgerissen oder zerschnitten. Wie das Kruzifix aus Santa Maria Teodote in Pavia (ca. 960?, heute Basilika San Michele Maggiore) und das Kruzifix im Dom Sant'Evasio in Casale Monferrato (um 1170) gehört das Stück in Vercelli (spätes 10./frühes 11. Jahrhundert) zur kleinen Gruppe der bis heute überlieferten silbernen Monumentalkruzifixe im Norden Italiens. Bis zu seiner Beschädigung 1983 war es zentrales Objekt der liturgischen Osterfeier in der Kathedrale in Vercelli.

Schon bald begann eine Initiative zur Sicherung und Wiederherstellung der kostbaren Goldschmiedearbeit, die über zehn Jahre dauern sollte. Aufgrund der besonderen materiellen Beschaffenheit des Kruzifixes und mit Blick auf die Schwere der Schäden handelte es sich um ein Pionierprojekt, dessen Leitung die Soprintendenza per i Beni Artistici e Storici del Piemonte in Turin innehatte und das von Paola Astrua betreut wurde. 1995 kehrte das Kruzifix nach Vercelli zurück.

Mit der aktuellen Publikation liegt nun ein Band vor, der Beiträge der Restauratorinnen und Restauratoren, die von 1984 bis 1995 an der Dokumentation und Wiederherstellung des Kruzifixes beteiligt waren, mit den Ergebnissen von Untersuchungen zusammenführt, die im Zuge des Projekts MEMIP/09 [1] unter Einbindung des Centro Interdisciplinare per lo Studio e la Conservazione dei Beni Culturali (CENISCO) der Università del Piemonte Orientale in Vercelli entstanden sind.

Nach der Einführung von Saverio Lomartire (19-26) bildet ein Text Adriano Peronis den Auftakt, der seit den 1960er-Jahren die Gruppe der silbernen Monumentalkruzifixe in Piemont und der Lombardei erforscht [2] und hier als Zeitzeuge auftritt: Peroni beschreibt die Schäden durch den Akt der Zerstörung, die Erschütterung, die geplanten Sicherungsmaßnahmen. Im Appendix werden diesbezügliche Korrespondenzen und Protokolle der Jahre 1983 bis 1987 zur Verfügung gestellt (29-55). Vier Beiträge befassen sich mit dem silbernen Corpus und der silbernen Verkleidung der Kreuzbalken, zu der eine Himmelfahrtsszene am oberen Kreuzende, eine Anastasis an der Vorderseite des Suppedaneums und ein Stifterbild (14. Jahrhundert) am unteren Kreuzende gehören. Domenico Collura (57-66) beschreibt die Sicherungs- und Reinigungsmaßnahmen der aus Silber getriebenen Teile nach der Zerstörung. Giorgio Rolando Perino kartiert erstmals die silberne Oberfläche des Kruzifixes einschließlich aller Beschädigungen und Reparaturen (73-87). Alessandro Pacini analysiert Treibtechnik und Herstellungsprozess: Die sehr dünnen Silberbleche des Corpus wurden erst getrieben und dann mit flüssigem Treibkitt gefüllt, in dem anschließend, zur Stabilisierung, ausgehöhlte Holzelemente versenkt wurden (123-130). Eine chemische Untersuchung der silbernen, partiell vergoldeten Oberflächen ist Teil der Gesamtanalyse aller Materialien des Kruzifixes durch Maurizio Aceto, Angelo Agostino und Gaia Fenoglio (131-143). Demnach ist die Oberfläche keineswegs homogen, sondern aus vielen unterschiedlichen Teilen mit jeweils spezifischer Legierung zusammengesetzt - ein Hinweis auf zahlreiche Überarbeitungen. Die gleiche Analyse bietet eine aktuelle Untersuchung der Füllmasse auf Bienenwachsbasis mit einem naturwissenschaftlichen Methoden-Mix (138-140). Diese Untersuchung vertieft die von Kristine Doneux vorgestellten Ergebnisse aus den 1980er-Jahren (67-71): Erstmals kann gezeigt werden, dass für die Füllmasse zwei unterschiedliche Rezepturen zur Anwendung kamen - eine frühe Rezeptur aus Bienenwachs, Sand und Gips, sowie eine spätere auf der Basis von Kiefernharz und Baryt. Die neue Rezeptur ist Zeichen eines technologischen Wandels - die Autoren verweisen auf die Nennung von Baryt als Material bei Agricola, De re metallica (1556) - sowie einer weiteren, nicht schriftlich dokumentierten Restaurierung (15./16. Jahrhundert?). Das Oberflächenrelief der Füllmasse kartiert Giorgio Rolando Perino (82-84).

Cinzia Oliva und Anna Maria Colombo diskutieren 185 Textilfragmente, die im Oberkörper der Christusfigur gefunden wurden. 42 dieser Fragmente gehören zusammen, sie stammen aus dem 13./14. Jahrhundert und lassen sich zu einem Textil rekonstruieren, für das die Autorinnen eine Funktion als Altardecke vorschlagen (91-117). Simone Riccardi legt eine Detailuntersuchung der Bemalung der Rückseite der Kreuzbalken mit den Leidenswerkzeugen Christi aus dem 16./17. Jahrhundert vor (119-121). Simonetta Sampò und Giorgio Buffa bestimmen Nussbaum als Material der Kreuzbalken und weisen Beschädigungen vor allem im Bereich der Rückseite und der Ränder der Balken nach, ohne diese jedoch in Relation zur liturgischen Funktion des Kruzifixes zu setzen (145-149).

Der Steinbesatz der Krone des Gekreuzigten ist Gegenstand eines eigenen Beitrags von Caterina Rinaudo und Alessandro Croce (141-143), der sich mit Techniken des Steinschliffs und -schnitts auseinandersetzt (zur Materialanalyse vgl. den Beitrag Aceto / Agostino / Fenoglio). Die Untersuchung der Dokumentation früherer Restaurierungen im Archivio Capitolare (Anna Cerutti, 47-55) setzt Objekt- und Textevidenz in Relation zueinander. Publiziert wird der Bericht der Restaurierung des Kruzifixes durch Giuseppe Martina (1933/34). Franco Berruto und Timoty Leonardi beschreiben die Neuinszenierung des Kruzifixes im Dom und die museale Präsentation der entnommenen originalen Füllmasse im Museo del Tesoro del Duomo: die aktuelle Teilung des Objekts zwischen religiösem Raum und Museum (151-152 und 153-159).

Für zukünftige Forschungen wird der Band eine unverzichtbare Grundlage sein: Das zur Verfügung gestellte reiche Daten- und Bildmaterial ermöglicht es, diese mit dem "Veto des Objekts" [3] zu konfrontieren. Auf eine methodische Rahmung des Vorhabens, eine Reflexion der objektbasierten Forschungsperspektive und der durch diese eröffneten Möglichkeiten des Austauschs zwischen den Restaurierungswissenschaften und einer Kunstgeschichte als Objektwissenschaft, wird aber verzichtet. Die aktuelle Disposition des Werkes ließe sich weiterdenken mit Blick auf den aktuellen Forschungsdiskurs zu "religiösen Objekten im Museum", der den komplexen Objektstatus religiöser, insbesondere mittelalterlicher Objekte verhandelt: Kultbild, Kunstobjekt und / oder kulturelles Erbe?


Anmerkungen:

[1] Medieval Enamels, metalworks and ivories in Piedmont: Art-historical and scientific methods for their evaluation.

[2] Grundlegend: Adriano Peroni: Il crocifisso della badessa Raingarda a Pavia e il problema dell'arte ottoniana in Italia, in: Kolloquium über spätantike und frühmittelalterliche Skulptur, Bd. 2, hg. v. Vladimir Milojčić, Mainz 1971, 75-109.

[3] Gudrun M. König: Das Veto der Dinge, in: Die Materialität der Erziehung: Zur Kultur- und Sozialgeschichte pädagogischer Objekte (= Zeitschrift für Pädagogik; Beiheft 58), hgg. v. Karin Priem / Gudrun M. König / Rita Casale, Weinheim / München 2012, 14-31.

Rezension über:

Saverio Lomartire (a cura di): Il Crocifisso ottoniano di Vercelli. Indagini tecnologiche, diagnostica, restauri, Vercelli: Gallo edizioni 2016, 199 S., ISBN 978-88-973-1425-7, EUR 28,00

Rezension von:
Katharina Chr. Schüppel
Technische Universität, Dortmund
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Chr. Schüppel: Rezension von: Saverio Lomartire (a cura di): Il Crocifisso ottoniano di Vercelli. Indagini tecnologiche, diagnostica, restauri, Vercelli: Gallo edizioni 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/06/30575.html


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