sehepunkte 18 (2018), Nr. 3

David Cannadine: Margaret Thatcher

"Scargill alive!" [1] Mit dieser lakonischen Kurznachricht reagierte der ehemalige Gewerkschaftsführer Arthur Scargill im April 2013 auf den Tod Margaret Thatchers. Knapp drei Jahrzehnte nach der Schlacht um Minenschließungen, die das Ende zahlloser Zechen in Großbritannien einläutete, sprach daraus eine stille Genugtuung, die ehemalige Premierministerin zumindest in einer Hinsicht übertroffen zu haben. Als über der britischen Politik des letzten Vierteljahrhunderts schwebender Schatten bleibt Thatcher indes larger than life. Entsprechend angeregt taxieren die Matadore geschichtspolitischer Kontroversen Thatchers Erbe. In die Flut einschlägiger Publikationen reiht sich jetzt der Doyen britischer Zeitgeschichtsschreibung, David Cannadine, ein. Als Herausgeber des Oxford Dictionary of National Biography hat er selbst den Eintrag zu Thatcher verfasst, der quantitativ nur noch von denen zu William Shakespeare und Elisabeth I. überboten wird und nun als knapper biographischer Abriss separat erschienen ist. Das Format lässt keine bahnbrechenden Neubewertungen zu, erlaubt jedoch interpretatorische Zuspitzungen, die Cannadine auch subtil zu setzen versteht.

Thatchers Herkunftsmilieu ist häufig auf dessen Prägekraft für die spätere Regierungschefin befragt worden. Ein puritanisch, vergleichsweise freudloses Ambiente, in dem sich Gottesfurcht auf Selbständigkeit zu reimen schien, bot die Folie, auf der sich Thatchers Werdegang luzide abzeichnete. Als Pendant zur sprichwörtlichen schwäbischen Hausfrau gerannen die "domestic verities of hearth and home" (4) Cannadine zufolge später zu regelrechten Regierungsmaximen. Das Chemiestudium in Oxford habe Thatcher mehr bedeutet als die Tatsache, als erste Premierministerin in Britanniens Geschichte einzugehen. Die Heirat mit Denis Thatcher stattete die junge konservative Parlamentskandidatin mit dem für eine politische Karriere hilfreichen "passport to the home counties' identity and respectability" (11) aus. Der Einzug ins Unterhaus 1959, die Galeerenjahre in untergeordneten Funktionen und zwei Reisen in die USA Ende der 1960er Jahre bildeten formative Erfahrungen. Als Bildungsministerin unter Edward Heath verdoppelte sie ab 1970 - ganz gegen ihr Credo von Leistung und Selbsthilfe - den Anteil der Gemeinschaftsschulen in England und Wales auf Kosten der von ihr eigentlich so geschätzten Gymnasien. Das blieb nicht das letzte Paradoxon in Thatchers Laufbahn.

Die Wahl zur Parteichefin 1975 verdankte sie wesentlich den Aversionen vieler Tories gegenüber dem als Umfaller gescholtenen Heath, aber auch einem neuen Zeitgeist, der in Gestalt von Keith Joseph den Paternalismus eines Harold Macmillan über Bord warf und stattdessen unter der Flagge des Monetarismus dem Wettbewerbsgedanken die Segel blähte. Die Granden der Konservativen Partei rieben sich die Augen, wen sie da an sich hatten vorbeiziehen lassen: Weder ihr Geschlecht noch ihre Herkunft prädestinierten Thatcher zu einer Führungsrolle bei den Tories, und erst die Dienste eines Stimmtrainers ermöglichten es ihr, sich als Oppositionsführerin im testosteronschwangeren Unterhaus Gehör zu verschaffen.

Selbst nach ihrem fulminanten Wahlsieg 1979 konnte sie den Ruch eines "jarring and untried extremist" (29) nicht abstreifen. Dass ausgerechnet Joseph den angeschlagenen Autohersteller British Leyland mit Steuergeld vor dem Untergang bewahrte, während Thatcher - unter den Fittichen ihres Außenministers Peter Carrington - Rhodesien in die Unabhängigkeit entließ, passte nicht so recht zum Image eines neuen, kompromisslosen Konservatismus. Zudem verschärfte die auf den Kampf gegen die Inflation getrimmte Finanzpolitik einstweilen jene Dauerwirtschaftskrisen, derentwegen Großbritannien als kranker Mann Europas galt. Unruhen wie 1981 in Brixton schienen die Skeptiker in der eigenen Partei zu bestätigen, die befürchteten, Thatcher kündige den Nachkriegskonsens in der Sozialpolitik komplett auf. Denn die eiserne Lady machte eine culture of dependency und marodierende Labour-Politiker in den Kommunen für diverse gesellschaftliche Verwerfungen verantwortlich.

Als viele bereits eine zweite Amtszeit Thatchers abgeschrieben hatten, half Fortuna der streitbaren, auf viele unnahbar wirkenden Premierministerin: Zum einen leistete sich Labour mit Michael Foot die Karikatur eines Oppositionsführers, zum anderen verhielt sich die Junta in Buenos Aires nach der Invasion der Falklandinseln 1982 zum eigenen Verderben noch unnachgiebiger als Thatcher, die sich ein Jahr später als Wahrerin des internationalen Rechts und der britischen Ehre dem Votum der Nation stellen konnte. Mit dem Schlachtruf, Britanniens Niedergang gestoppt zu haben, baute die Krämerstochter aus Grantham als einziger Tory-Premier des 20. Jahrhunderts bei der ersten Wiederwahl ihr Ergebnis aus. Cannadine diagnostiziert nach dem unwahrscheinlichen Sieg eine "mounting hubris" (58), zumal sich Thatchers Abneigung gegen eine Politik auf der Basis von Gruppenidentitäten - wie der der Bergleute - intensivierte. Dass Thatcher in all ihren Kabinetten neben sich nur eine weitere Frau duldete, zeige die Premierministerin als ein "bundle of gendered contradictions" (65), obwohl Thatcher laut Cannadine ihre weiblichen Instinkte durchaus taktisch zu nutzen verstand, während sie von Elisabeth II. eine nicht überbrückbare soziale und ideologische Kluft trennte. Thatcher bezwang in der Folge die Gewerkschaften, beschnitt die Befugnisse der als Pfuhl der Verschwendung verachteten lokalen Selbstverwaltung und überstand mit Ach und Krach die Westland-Affäre, doch wirklich populär sei sie auch danach nicht gewesen. Die Privatisierung von Staatsbetrieben und der Verkauf von Sozialwohnungen habe Thatchers individualistischen Impulsen entsprochen und sie zusehends zur Premierministerin allein des prosperierenden Südostens degradiert. Eine "materialistic culture of rampant greed" (82) habe zumindest die Eliten erfasst und das Land auf eine zur Verschuldung neigenden "nation of individualized consumers" (83) reduziert. Nach dem Wahlsieg 1987 habe sich Thatcher obendrein immer abgehobener gezeigt. Der Etat von 1988 spielte ganz unverblümt den Wohlhabenden in die Karten, während das Gespenst der Inflation zurückkehrte, was gerade die Kernklientel der "self-styled populist premier" (99) hart traf.

Thatcher stürzte 1990 schließlich über ihre Weigerung, den wachsenden Graben zwischen den two nations zu schließen, die schottischen Bedenken gegen die poll tax ernst zu nehmen und die deutsche Wiedervereinigung als Erfüllung westlicher Forderungen im Kalten Krieg zu akzeptieren, was sie "emphatically on the wrong side of history" (123) platziert habe.

Cannadine lässt es sich nicht nehmen, Thatchers Leben nach dem Abschied aus 10 Downing Street in düsteren Farben zu malen, bisweilen auch mit leicht gehässigem Unterton. In einem etwas oberlehrerhaft geratenen Vergleich mit Heroen der britischen Geschichte verteilt Cannadine Zensuren und frönt dabei der urbritischen Leidenschaft des sozialen Rankings, indem er Thatchers Weg von Grantham nach Westminster an dem anderer Premierminister mit eher ungewöhnlichen Lebensläufen misst. Dabei missglückt ihm auch die Charakterisierung des Falklandkriegs als "late colonial expedition" (119), nachdem er den Konflikt im Südatlantik zuvor sine ira et studio als das geschildert hatte, was er in Wirklichkeit war: die Abwehr modernen Raubrittertums in den internationalen Beziehungen. Das romantische Naturell Thatchers musste im Übrigen früher und später mit den Winkelzügen europäischer Konsenspolitik kollidieren. Außer Zweifel steht, dass die vulgärpatriotischen Allotria eines Nigel Farage - laut Daily Mail, ohne jeglichen Anflug von Ironie, nach Thatcher die "most significant British political figure since Churchill" [2] - besonders in einem Klima gedeihen konnten, welches das Standing alone kultivierte und den Thatcherismus als dessen legitimen Erben betrachtete. Wie tiefgreifend und nachhaltig sich Großbritannien trotz aller von Cannadine zu Recht betonten Kontinuitäten verändert hatte, stellte wider Willen niemand besser unter Beweis als Arthur Scargill, der 1993 in bester Londoner Lage eine Wohnung kaufen wollte (deren Miete von seiner Gewerkschaft bezahlt worden war) - unter Maßgabe der Thatcher'schen Right-to-buy-Gesetzgebung. [3] Thatcher alive!

Cannadines essayistischer Zugriff stützt sich im Wesentlichen auf die bekannte Sekundärliteratur und bietet am Ende ein nutzerfreundliches Glossar, eine Chronologie sowie eine knappe Übersicht über die dramatis personae. Hinzu kommen weiterführende Lektüreempfehlungen. Der Band eignet sich mithin für eine tour d'horizon als Ausgangspunkt für eine intensivere Betrachtung von Einzelaspekten im Leben und Wirken Thatchers.


Anmerkungen:

[1] https://www.theguardian.com/politics/2014/feb/28/in-search-of-arthur-scargill-miners-strike; abgerufen am 30.01.2018.

[2] http://www.dailymail.co.uk/news/article-5300489/We-need-fearless-leader-deliver-Brexit-Nigel-Farage.html; abgerufen am 30.01.2018.

[3] http://www.bbc.com/news/uk-england-25731328; abgerufen am 30.01.2018.

Rezension über:

David Cannadine: Margaret Thatcher. A Life and Legacy, Oxford: Oxford University Press 2017, XII + 162 S., ISBN 978-0-19-879500-1, GBP 10,99

Rezension von:
Gerhard Altmann
Korb
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Altmann: Rezension von: David Cannadine: Margaret Thatcher. A Life and Legacy, Oxford: Oxford University Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/03/30577.html


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