sehepunkte 17 (2017), Nr. 9

Duncan MacRae: Legible Religion

"Römische Religion" hat sich im letzten Jahrzehnt zu einem Feld entwickelt, in dem (wie zuvor im Felde "griechischer Religion") Grundsatzfragen vormoderner Religionsgeschichte und Charakteristika antik-mediterraner Kulturen verhandelt wurden. Das vorliegende Buch setzt diesen Trend fort, indem es die Frage der "Lesbarkeit der Religion" [1] als historisch-kontingente Entwicklung der ausgehenden römischen Republik behandelt. Die überzeugend plausibilisierte These der überarbeiteten Harvard-Dissertation (2013) lautet: Innerhalb des Wettbewerbs der aristokratischen Elite konstruierten einzelne Mitglieder eine "römische Religion" als in Büchern darstellbare religiöse Praxis. Mit der so rekonstruierten theologia civilis (also einer Religionstheorie römischer Bürger) positioniert sich MacRae in mehreren laufenden Forschungskontroversen: In der Frage nach der Rolle literarischer Texte in einer auf rituelles Tun fokussierten religiösen Praxis sind die Texte eines Cicero, Varro, Nigidius Figulus, L. Cincius, Valerius Soranus oder M. Valerius Messalla Rufus weder neue heilige Texte ("scripture") noch individuelle Reflexionen über religiöse Praxis, die diese Rituale gerade durch schnell wechselnde Interpretationen interessant machen [2] ("Conclusion", 141-147). Vielmehr sind es Produkte, die ganz auf die civic religion zugeschnitten sind: Jener durch die politische Elite organisierten civic religion, die gerade durch ihre Akteure (Magistrate, "öffentliche Priester"), ihre Sichtbarkeit und Exemplarität (die sich durch das massive Investment der Erstgenannten ergibt) und die damit einhergehende politisch-juristische Kontrolle jenen Grad an Verbindlichkeit erhält, die sie politische Identität und Loyalität erfolgreich unterstützen lässt. Erst durch ihre Systematisierung, ihren exklusiven Rombezug und ihre abschließende Beschreibung in den genannten Texten macht sie sie zu jenem scharfen Instrument, das John Scheid bereits durch ihre bloße Praxis und die erfolgreiche Behauptung der Elite, sie stünde für das Gemeinwesen als ganze, gegeben sieht. [3]

Exklusivität eines einheitlichen Systems (27) ergibt sich erst aus Differenz, und es ist gerade der Nachweis von religiöser Diversität in der späten Republik, dem das erste Kapitel gewidmet ist (13-27). Das zweite Kapitel (28-52) gilt der Identifizierung eines gemeinsamen Stils (29) des untersuchten Textcorpus. Charakteristisch sind detaillierte Beschreibung von Praxis (wobei MacRae nicht zwischen description und prescription unterscheidet); Listen, die Vollständigkeit und Systematik suggerieren; einen Bezug zur Materialität von Religion auf dem Boden der Stadt Rom, der in Form von Stadtführungen Systematik nahelegt; einen ethnografischen Zugang, der "Römisches" von Praktiken anderer Ethnien unterscheidet; und schließlich zwei Praktiken, die das so konstruierte System als alt (und damit ehrwürdig) ausweisen: Etymologie und der Gestus der Enthüllung. Zu diesen Stil-Elementen traten dann, als Teil eines spätrepublikanischen Trends, noch Textgestaltungen als Rechtskommentar und überhaupt die "Textualisierung", die Gestaltung als Buch (kürzerer) ritueller oder administrativer Texte hinzu. Kapitel 3 (53-75) verortet die Autoren in den unterschiedlichsten Teilgruppen der politischen Elite und wertet Widmungen und implizite Leser wie auch den Verweis auf Bücher in Reden als Hinweis auf eine Verwendung aus, die primär innerhalb dieser Elite erfolgte und ebenso Konsensstiftung wie Wettbewerb im Auge haben konnte (74).

Das vierte Kapitel bietet einen nach Jack N. Lightstone [4] nicht wirklich überraschenden, in jedem Fall plausiblen Vergleich mit der rabbinischen Mischna. MacRae fokussiert auf die der Textualisierung implizite Systematisierung (seine Ablehnung des Weberschen Rationalitätsbegriffes, 29, bleibt daher unbegründet), die Begründung einer kollektiven Autorität durch die Darstellung von Diskussionen unterschiedlicher Meinungen und der legitimatorische, vor allem aber auf den legitimierenden Verweis auf Priesterschaften - die im römischen Fall die wichtigsten Träger zivil-religiöser Autorität bleiben. Die beiden folgenden Kapitel verfolgen die schnell abklingende Produktions- und Rezeptionsgeschichte der Gattung: Zentral waren die Kaiser, die eigene neue Praktiken mit Bezug auf das Textcorpus rechtfertigten (Speerwurf des Fetialen, Säkularspiele, Pomeriums-Erweiterung, 105-110); mit Blick auf Verrius Flaccus behauptet MacRae eine Verlagerung der Diskursproduktion an den kaiserlichen "Hof". Das immunisiert Zivil-Theologie nicht gegen etwa philosophische Kritik, verknüpft sie aber mit der Autorität und religiösen Innovationen ("Restaurationen") des Kaisers (121f.). Die im sechsten Kapitel behandelte christliche Rezeption konzentriert sich dann ganz auf Varro: bei Tertullian, für den er einfach die Autorität für den (in Karthago!) Schreibenden bildet, bei Augustin, für den die Varronische Textualisierung von Religion gerade in ihrer philosophischen Fehlerhaftigkeit zum entscheidenden Sparring-Partner für das eigene intellektuelle Projekt der monumentalen De civitate dei wird (123-140).

MacRae führt sein Buch als "intellektuelle und Sozialgeschichte gelehrter Bücher über römische religiöse Kultur" (5) ein. Mit guten, textnahen Beobachtungen geht er dabei in wichtigen Punkten wie Stil, Stadtbezug und Rolle innerhalb der Elite sowie frühe Rezeptionsgeschichte über vorliegende Arbeiten zu diesen Texten hinaus. [5] An vielen Punkten hätte man sich aber ein dickeres Buch gewünscht. Angesichts des erreichten Forschungsstandes wäre eine deutlichere Aussage zur Frage, wann genau diese Textproduktion einsetzte, wünschenswert gewesen. Was unterschied die auguraltechnischen Schriften der Mitte des ersten Jahrhunderts v.Chr. von hundert Jahre älteren Werken? Bei wem ging es jenseits von Varro und Cicero um einen Religions-Begriff? Was unterschied Properzens viertes Elegienbuch und Vergils Aeneis vom untersuchten Corpus? Wie verhalten sich individuelle Meinung zu kollektiver Autorität der Autoren und wie diese zum mos maiorum? Hier haben es Autor und Verlag mit der Lesbarkeit der Legible religion zu gut gemeint.


Anmerkungen:

[1] Burkhard Gladigow: Von der "Lesbarkeit der Religion" zum iconic turn, in: Religiöse Funktionen des Fernsehens?, hg. v. Günter Thomas, Wiesbaden 2000, 107-124 (nicht zitiert).

[2] Denis Feeney: Literature and Religion at Rome. Cultures, Contexts, and Beliefs, Cambridge 1998; ähnlich in Arbeiten von Mary Beard.

[3] John Scheid: Quand faire, c'est croire. Les rites sacrificiels des Romains, Paris 2005; Les dieux, l'État et l'individu. Réflexions sur la religion civique à Rome, Paris 2013.

[4] Jack N. Lightstone: Mishnah and the Social Formation of the Early Rabbinic Guild. A Socio-Rhetorical Approach, Waterloo, Ont. 2002 (nicht zitiert).

[5] Vgl. Andreas Bendlin / Jörg Rüpke (Hgg.): Römische Religion im historischen Wandel. Diskursentwicklung von Plautus bis Ovid, Stuttgart 2009; Jörg Rüpke: Religion in Republican Rome. Rationalization and Ritual Change, Philadelphia 2012.

Rezension über:

Duncan MacRae: Legible Religion. Books, Gods, and Rituals in Roman Culture, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2016, 269 S., ISBN 978-0-674-08871-9, USD 49,95

Rezension von:
Jörg Rüpke
Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Rüpke: Rezension von: Duncan MacRae: Legible Religion. Books, Gods, and Rituals in Roman Culture, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/09/29049.html


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