sehepunkte 17 (2017), Nr. 6

Thomas Föhl / Antje Neumann: Henry van de Velde. Raumkunst und Kunsthandwerk

Ohne Zweifel wünschen sich die Kunstwissenschaft und die ihr verwandten Disziplinen Gesamtübersichten von Werken berühmter Künstler / Designer. Das gilt insbesondere dann, wenn sie gewissermaßen als Schöpfer eines neuen Stils, im vorliegenden Fall des Jugendstils, gelten können und in vielen Disziplinen des Kunsthandwerks gearbeitet haben. Solch ein Desiderat besteht umso mehr, wenn es sich um ein so umfangreiches und vielschichtiges Werk wie das von Henry van de Velde handelt.

1863 in Antwerpen geboren, begann er 1880 ein Studium der Malerei. Der gerade aufkeimende Impressionismus, der die Normen der konventionellen Malerei aufzubrechen begann, ließ auch van de Velde nicht unberührt. Eine Begegnung mit Künstlern von Barbizon und vor allem mit Georges Seurat (1859-1891) hatte zur Folge, dass er sich in seinen Bildwerken fortan dem Pointilismus und dem Impressionismus zuwandte. Die Beschäftigung mit Schriften der englischen Arts and Crafts-Bewegung zu Beginn der 1890er-Jahre wiederum brachte eine erneute Wende in seinem Schaffen. Sein Interesse am Kunsthandwerk, an der Gestaltung von Interieurs, in denen Möbel, Textilkunst, Tapeten, Beleuchtungskörper u.v.m. zu einer stilistischen Gesamtheit verbunden werden, stieg in dem Maße, in dem er sich mit den aktuellen Ideen der Kunsthandwerksbewegung auseinandersetzte. Fortan galt sein Interesse dem Entwurf von Textilien, Möbeln, Tapeten, Bestecken, Schmuck, Lampen, Keramik, Buchkunst und Grafik.

Die Klassik Stiftung Weimar setzte sich mit einem im Jahr 2000 begonnenen Forschungsprojekt ein hohes Ziel. In sechs Bänden sollte das Gesamtwerk des Künstlers, das mehrere tausend Positionen umfasst, in einer deutsch-englischen Ausgabe publiziert werden. Basis für diese akribische, nur mithilfe moderner Datenverarbeitungstechniken zu leistende Arbeit bildeten zwei große Nachlassteile des Künstlers sowie Dokumente, die in den Nachlässen der Kunden van de Veldes und im Besitz weiterer Privatpersonen erhalten sind. Das 2009 erschienene Gesamtverzeichnis zur Metallkunst stellte einen ersten großen Schritt dar. Der Band enthielt nicht nur mehrere hundert Objekte (Schmuck, Gefäße, Bestecke, Beleuchtungskörper), sondern erstmals umfassend die Zusammenstellung von Kunden, Auftraggebern und Käufern der Schöpfungen van de Veldes. 2014 folgte der Band zur Textilkunst. Der nunmehr vorliegende dritte Band befasst sich mit Keramik, der sich van de Velde ab 1895 zuwandte. Wie schon die beiden vorangegangenen Publikationen zeichnet sich auch das vorliegende Werk durch eine solide Verarbeitung im Leineneinband aus, das auch rein äußerlich dem Anspruch eines Standardwerkes gerecht wird und intensivem Gebrauch standhält. Erfreulicherweise wurde auch die frühere Titelankündigung als "Keramik und Porzellan" korrigiert, ist unter dem Oberbegriff "Keramik" doch selbstverständlich auch Porzellan zu fassen.

Zu Beginn seiner Beschäftigung mit keramischem Material entwarf Henry van de Velde Fliesen und Ofenkacheln (ab 522), die der mit ihm befreundete Keramiker Alexandre Bigot (1862-1927) in seiner Werkstatt in Aulnay près Mer ausführte. Später schlossen sich Entwürfe für die deutschen Geolithwerke in Berlin und für die Ransbacher Mosaik- und Plattenfabrik G.m.b.H. an. Zwischen 1903 und 1905 arbeitete van de Velde auch für die für ihre Qualität bekannte Hoftöpferei und Ofenfabrik J. F. Schmidt in Weimar. Hier zeigt sich bei den festgemauerten Kachelöfen das Überwiegen klassischer Formen ohne Dekorelemente. Hingegen band er bei der Gestaltung von beweglichen Öfen an zentralen Stellen der Häuser durchaus Jugendstilornamente bzw. Metallgitter mit markanter Durchbrucharbeit ein.

Den breitesten Raum im keramischen Werk van de Veldes nehmen seine Aufträge im Westerwald und in Bürgel (Thüringen) ein. Auf Betreiben des zuständigen Landrats sollte die Westerwälder Steinzeugindustrie mit der Verpflichtung des Künstlers neue Impulse erhalten, sich neuen Ideen und Formen öffnen, der Absatz der Erzeugnisse gesteigert werden. Im Herbst des Jahres 1900 entstanden Kontakte zur Firma Merkelbach & Wick, zur Kunsttöpferei Reinhold Hanke, aber auch zu anderen Unternehmen der Region (Dümler & Breiden, Simon Peter Gerz d.Ä.). Als besonders fruchtbar erwies sich die seit 1902 bestehende vertragliche Zusammenarbeit mit August Hanke, der die Entwürfe des Künstlers sehr gerne umsetzte. Die industriellen Fertigungsmethoden der ortsansässigen Unternehmen sahen vor, dass Dekore bzw. Dekorelemente oder markante Henkelbildungen als Negativabdruck bereits im Gussmodel vorhanden waren. Der Ton wurde dann in die jeweiligen Formen eingedreht bzw. konnte auch in eine Gipsform eingegossen werden. Besondere Aufmerksamkeit kam den Glasuren zu, wobei seit um 1900 das Moment der Zufälligkeit und Unregelmäßigkeit als explizite Gestaltungskriterien einkalkuliert wurden. Die traditionelle grau-blaue Farbgebung stand ebenso zur Disposition wie das überkommene Formenspektrum. Der Experimentierfreudigkeit waren folglich keine Grenzen gesetzt. Kupferrote Feldspatglasuren etwa konnten nach dem Brennen in tiefem Rot erscheinen, vollständig zu Grün oxidieren, durch Kolloidalfärbung zu Blau werden oder durch eingeschlossene Kohlenstoffteilchen dunkle Punkte ähnlich einem Leopardenfell aufweisen. Integriert in vertieften Gefäßpartien, Drehrillen oder Knicken entstanden so wirkungsvolle Effekte auf den Gefäßoberflächen. Van de Velde entwarf eine Vielzahl an Vasen und Schalen. Bis 1902 war er für die Westerwälder tätig.

Nach seiner Berufung nach Weimar 1902 begann van de Veldes Engagement für die Bürgeler Töpfer. Unter dem Eindruck der seit der Jahrhundertwende entwickelten neuen Glasurtechniken hielt er die ortsübliche Anwurfglasur nicht mehr für zeitgemäß. 1904 legte er dem Staatsministerium in Weimar einige Entwürfe für neue Gefäßformen und neue Glasurverfahren vor, das diese an entsprechende Töpfereien weitergab. Er lieferte für mehrere Unternehmen Entwürfe: für die Töpfereien von Karl Otto Hermann Schack, Franz Eberstein, Carl Gebauer, Karl Otto Hermann Schack und Max Neumann. Insgesamt gesehen zeichnen sich van de Veldes Keramiken für den Westerwald wie auch für Thüringen durch überwiegend dunkle Glasuren aus, die in Kontrast mit hellen Partien gesetzt werden. Einzelornamente oder Ornamentbänder treten eher selten auf. Für Handhaben, Henkel und Deckel sucht der Künstler stets elegante Lösungen.

Im dritten Teil des Werkes werden van de Veldes Arbeiten für die Porzellanindustrie, insbesondere für Meißen, dokumentiert. Im Dezember 1902 wandte sich Paul Gesell, Direktor der Königlichen Porzellan-Manufaktur, an ihn und erbat Entwürfe für Porzellane. Die Pariser Weltausstellung von 1900 hatte gezeigt, dass das sächsische Unternehmen im Vergleich mit anderen europäischen Manufakturen - insbesondere Sèvres - kaum Innovationen vorweisen konnte und sich im Vergleich mit anderen als altmodisch und rückständig erwies. Mit Henry van de Velde wollte man nun versuchen, neue Formen und Dekore zu entwickeln, ohne ganz auf traditionelle Modelle und Dekore (wie etwa das Zwiebelmuster) zu verzichten. Allerdings gestaltete sich die Arbeit mit dem Material "Porzellan" weitaus schwieriger als mit Steinzeug und Irdenware. Probleme machte vor allem das Schwindungsmaß, das van de Velde bei seinen Größenentwürfen nicht richtig einzuschätzen vermochte. Die formale Systematik der einzelnen Geschirrteile passte folglich nicht zusammen. Die dadurch bedingten zeitlichen Verzögerungen setzten den Künstler erheblich unter Druck. Van de Veldes Bestreben bestand zunächst darin, für alle Serviceteile eine einheitliche, organisch geschlossene Formensprache zu entwickeln. Auch für alle Deckelknäufe, Handhaben und Henkel sah er eine einheitliche Gestaltung vor. Erst nachdem alle formalen Schwierigkeiten überwunden waren, begann die Dekorationsarbeit. Van de Velde entwarf ein 'Schleudermotiv', das heute unter dem Begriff 'Peitschenhiebdekor' bekannt ist, und ließ es in Gold und Unterglasurblau ausführen. Die Entstehung des Services hatte sich über zwei Jahre hingezogen und dem Künstler wie auch der Manufaktur große Missstimmung bereitet. Besonders gravierend aber war, dass das Service in Fachkreisen "durchfiel". Kritiker monierten die formaltechnisch bedingte Schwere mancher Geschirrteile und eine 'unglückliche Form', deren Nähe zu Metallgegenständen offensichtlich war. Verständlicherweise brach der Kontakt Henry van de Veldes mit Meißen nach diesem Misserfolg ab.

Nur sporadisch beschäftigte sich der Künstler danach noch mit Porzellan. 1906 etwa entwarf er für Mathilde von Schwarzburg-Rudolstadt ein Frühstücksservice, das die Porzellanfabrik Beyer & Bock in Volkstedt ausführte. Mit seinem schwarz-weißen Schachbrettdekor zeigt sich der Künstler hier in augenfälliger Weise dem Jugendstil verpflichtet. Im selben Jahr entstand auch das Burgau-Service, das sich formal zwar an dasjenige für Mathilde von Schwarzburg-Rudolstadt anlehnte, aber sich beim Dekor auf eine schmale Bordüre im Randbereich der einzelnen Gefäße beschränkte. Einzelentwürfe etwa für die Ilmenauer Porzellanfabrik AG oder die Kunstterrakottafabrik Abicht & Co. datieren aus den Jahren 1904 bis 1906.

Die detailreiche Darstellung lässt keine Wünsche offen. Die meisten Objekte sind im Bild vorgestellt, in vielen Fällen mit zugehörigen Entwurfszeichnung, oft auch einem Dokumentationsfoto sowie einem ausführlichen wissenschaftlichen Begleittext. Besonderes Augenmerk haben die Herausgeber auf die Benutzbarkeit des Buches als permanentes Nachschlagewerk gelegt. Der Interessierte kann auf ein sorgfältiges und ausführliches Personenregister von Künstlern, Auftraggebern und Kunden van de Veldes zurückgreifen, die großenteils mit Porträtfotos dokumentiert sind. Eine Aufstellung aller Ausstellungen im Zeitraum von 1897 und 1952, auf denen Henry van de Velde Keramiken präsentierte, schließt sich an. Markentafeln, eine Porzellanformenübersicht und vor allem ein sorgfältiger Bildnachweis für 1612 Abbildungen sind besonders hervorzuheben und ermöglichen umfangreiche Recherchen nach allen Richtungen.

Rezension über:

Thomas Föhl / Antje Neumann: Henry van de Velde. Raumkunst und Kunsthandwerk. Ein Werkverzeichnis in sechs Bänden. Bd. III: Keramik, Leipzig: E. A. Seemann Verlag 2016, 693 S., ISBN 978-3-86502-231-8, EUR 148,00

Rezension von:
Silvia Glaser
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
Silvia Glaser: Rezension von: Thomas Föhl / Antje Neumann: Henry van de Velde. Raumkunst und Kunsthandwerk. Ein Werkverzeichnis in sechs Bänden. Bd. III: Keramik, Leipzig: E. A. Seemann Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/06/30526.html


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