sehepunkte 17 (2017), Nr. 6

Irmgard Männlein-Robert / Wolfgang Rother / Stefan Schorn u.a. (Hgg.): Philosophus orator

In dem Sammelband sollen zwei meist eher spannungsvoll gegeneinander wirkende Verfahren harmonisiert werden: nämlich die Interpretation philosophischer Texte auf der Grundlage der Analyse ihrer Argumentation einerseits, andererseits ihrer rhetorischen Machart und Strategie. Offenbar sah sich die platonische Philosophie ebenso in strengem Gegensatz zur an der bloßen Überredung orientierten Rhetorik sophistischer Provenienz, wie sie sich auch an einem philosophischen Begriff der Rhetorik abarbeitete. Bis in die Spätantike wird sich philosophische Rhetorik immer wieder auf diese platonische Grundlegung der psychagogia (Phaidros 261 a9) beziehen. Wovon aber will Philosophie überzeugen? Und warum genügen eigentlich die 'zwingenden' Argumente nicht? Das Verhältnis von ananke und peitho steht im Grunde genommen auch für das Problem, dass rationale Überzeugung alleine nicht genügt, den ganzen Menschen 'umzuwenden'. Ist die Rhetorik also ganzheitlicher?

Der Band selbst spannt einen Bogen von den frühgriechischen Philosophen (Parmenides) bis zur Spätantike, eine Studie zur Antigone bei Hegel setzt einen Schlussstein.

Entsprechend den wissenschaftlichen Forschungsgebieten des Geehrten, Michael Erler, aber auch aus historisch-systematischen Gründen findet sich ein Schwerpunkt im Bereich der hellenistischen Philosophie. Doch auch das 'Lehrgedicht' des Parmenides, in dem sich eine göttliche 'Lehrperson' an ihren 'Schüler' wendet, ist einschlägig. Mauro Tulli (31-46) belässt es aber im Wesentlichen bei den rhetorischen Formen der Didaxe. Ähnlich versucht Christopher Rowe (85-108) am Theaitetos aufzuzeigen, dass der Lehrer Platon gemäß den Regeln des Phaidros das zu Lernende so darstellt, dass es in einem konkreten Lernzusammenhang fassbar wird. Wenn moderne Interpreten bei der didaktischen Einführung der Ideen bereits metaphysische Entitäten zu erkennen glauben, dann widerspreche das Platons didaktischen Motiven. Rowe plädiert hier also für ein möglichst wenig metaphysisch argumentierenden, stattdessen eminent didaktisch vorgehenden Autor. Interessant ist diese Lesart deshalb, weil sie zu genau entgegengesetzten Ergebnissen kommt wie die ebenfalls nach dem Phaidros operierende Tübinger Schule. Wir müssen uns aber die Frage stellen, ob die didaktischen Motive Platons auch schon rhetorische sind.

Eine vergleichsweise nüchternere Analyse legt Sabine Föllinger (127-144) vor, die den literarischen Strategien bei Aristoteles nachgeht. Darunter versteht sie die "gezielte rhetorische Gestaltung eines Textes, die von einer auf Kunstmittel verzichtenden schlichten Präsentation des Wissens zu unterscheiden ist" (143). Nun kann auch eine schlichte Präsentation einer rhetorischen Strategie folgen: Föllinger also identifiziert "rhetorisch" mit ornatus und dem Gebrauch von Figuren/Tropen. Auch wenn sie den Rhetorikbegriff simplifiziert, kann sie doch in einer Fülle von gut ausgewählten Stellen zeigen, wie Aristoteles mithilfe literarischer Mittel (narratio, Vergleich, Tropen) Aufmerksamkeit erzeugen möchte, um den Leser (oder Hörer?) zu lenken. Ist dies auch ein rhetorisches Vorgehen? - Was unterscheidet diese literarischen Techniken von rhetorischen? Ist ein literarisch ansprechend gestalteter Text eo ipso ein rhetorisches Produkt? Für Föllinger hat die Rhetorik bei Aristoteles allein subsidiäre Wirkung: "literarische Strategien dienen der Absicherung im wissenschaftlichen Diskurs, insbesondere im Hinblick auf ein Publikum, das nicht nur aus Fachleuten besteht." (142). Das freilich wäre kein Einwand gegen die Verwendung von rhetorischen Mitteln überhaupt, könnte aber zeigen, welche bei der Produktion aristotelischer Pragmatien angewandt werden.

Von ungleich höherer Bedeutung ist die Rhetorik bei der Propagierung epikureischer Lebensweisheiten, wie sie etwa die berühmte Inschrift von Oinoanda zeigt: Diogenes wollte die wichtigsten Sätze des Epikur allen seinen Mitbürgern deutlich machen. Er wählte dafür das antike Medium und Format der Inschrift. Jürgen Hammerstaedt (259-277) identifiziert die officia. In seiner kritischen Würdigung hält er dem epikureischen Philosophen abschließend vor, dass dieser sich gegen seine Kollegen von der Stoa wende. Hierbei stützt Diogenes sich auf die Prämissen der eigenen, epikureischen Philosophie; diese bisweilen schwachen Argumente aber der Rhetorik anzulasten, scheint mir nicht einleuchtend (276). Vielleicht hätten einige moderne medientheoretische Überlegungen hier weitergeführt. So aber werden Rhetorik und Philosophie etwas holzschnitthaft nebeneinander gerückt. Thomas Baier (239-258) schickt seinen Überlegungen zur Versöhnung von Philosophie und Rhetorik bei Seneca eine instruktive Studie zur Selbsttröstung bei Cicero voraus. Für Seneca kann er zeigen, dass die Rhetorik ein nützliches Instrument ist, um den Willen des Menschen zum Guten immer wieder anzutreiben (impellere). Dieses kann insbesondere das Selbstgespräch leisten, in welchem der Mensch ein inneres Beraten vollzieht.

Bereits Isokrates (Antidosis 257) hat dieses bouleuesthai anthropologisch gedeutet.

Nach epikureischer Vorstellung hat die Rhetorik allenfalls die Deutlichkeit sicherzustellen, um den Rezipienten optimal mit der Lehre des Meisters zu versorgen. Techne erleichtert das Leben (Jan Erik Heßler, 161-179). Mich hätte insbesondere interessiert, ob die atomare Struktur der konzipierten Texte auch durch rhetorische Mittel so optimiert werden kann, dass die Rezeption auf "atomar-molekularer" Ebene befördert wird. Solche Gedanken und Überlegungen nämlich kann man durchaus in der älteren Atomistik wiederfinden. [1] Sollte also die Ausbildung einer rhetorischen Techne zu einer stärkeren Differenzierung oder sogar Konkurrenz zwischen Philosophie und Rhetorik geführt haben, dann wäre die harsche Kritik an der Rhetorik eine Folge.

Eben das Problem der Deutlichkeit und der barrierefreien Kommunikation, der sich die Rhetorik subsidiär zur Verfügung stellen soll, wird im Neuplatonismus um eine erhebliche Reflexionsstufe weitergetrieben. Eine Reihe von instruktiven Aufsätzen widmet sich der Frage, wie gerade die kommentierende und interpretierende Form der Philosophie im Neuplatonismus sich auch rhetorischer Mittel bedient. Carlos Steel (279-296) geht der Analyse durch die Neuplatoniker nach, zumal des platonischen Parmenides. Im Ausgang einer neuplatonischen Hermeneutik wird deutlich, wie Proklos nach bestimmten Schemata verfährt, um die platonischen Dialoge konzeptuell zu deuten. Im Zuge dieser neuplatonischen Analysen platonischer Dialoge allerdings verflüchtigt sich das eigentlich Rhetorische zusehends und philosophische Exerzitien oder Darstellungsschemata treten an deren Stelle; nach einem genuin rhetorischen Ansatz wird von den modernen Philosophen nicht mehr gefragt.

John Dillon (297-312) bringt eine Fülle von schönen Stellen aus Plotin, die beweisen, dass Plotin immer dann seine Lexis rhetorisch auflädt, wenn es ihm systematisch oder metaphysisch zur Sache geht, eigentlich ähnlich wie dies Föllinger für Aristoteles gezeigt hat. Für Dillon ist dies keine rhetorische Strategie, sondern "literary skill" (311).

Der systematischen Frage geht Christian Tornau nach. Wer oder was soll eigentlich mit einem philosophischen Traktat wie den Enneaden überzeugt werden? Dazu zieht er einige Aussagen zum höchsten Prinzip heran und kommt zu der überraschend klaren Antwort, dass es das diskursive Denken selbst ist, das überzeugt werden soll. Denn vor dem Einen versagt jede sprachliche und argumentative Darstellung. Michele Abbate: "[...]die Aufgabe der rhetorischen Mittel der Sprache des Unsagbaren ist, dem Denken seine eigenen Grenzen zu zeigen: Wegen der absoluten Dunkelheit, zu der das Denken mittels der Sprache des Unsagbaren kommt, muss es seine Tätigkeit unterbrechen und sich selbst aufheben" (366). Im Neuplatonismus wäre also eine aphatische Rhetorik gepflegt worden. - Ein Sprechen mithin, das sich stets selbst zurücknehmen müsste, um seinem Gegenstand, der kein Gegenstand sein kann, gerecht zu werden. Paradoxien dieser Art sind es, denen man in der neuplatonischen Philosophie allenthalben begegnen kann.

Man kann kenntnisreich und sensibel schwierige philosophische Texte auch in formaler Hinsicht interpretieren, ohne doch rhetoriktheoretisch in die Tiefe gehen zu müssen. Die Sammlung der Aufsätze weist auf, wo rhetoriktheoretisch weiter zu forschen wäre: Kann der Orator philosophus in der Protreptik überhaupt anders als rhetorisch agieren? Warum muss der Zuhörer überhaupt bewegt werden und warum genügen logische Argumente nicht, den Rezipienten zum richtigen philosophischen Leben zu führen? Ist dies nicht bereits eine Konzession an den rhetorischen common sense? Macht die Universalität der Rhetorik überhaupt vor der philosophischen Darstellung Halt? Oder liegt nicht bereits in der Versprachlichung ein immer schon rhetorisches Verfahren - so wie Platon von Cicero gerade in dessen Polemik gegen die Sophisten und Rhetores als orator summus (De oratore 1,47) gescholten wurde?


Anmerkung:

[1] Thomas Schirren: Auf den Leib rücken. Aisthesis im Strom der Dinge (δόζιϛ έπιρυϛμίη). Demokrit und das Problem der sinnlichen Erscheinung, in: Ruth Bielfeldt: Ding und Mensch in der Antike. Gegenwart und Vergegenwärtigung, Heidelberg 2014, 89-112.

Rezension über:

Irmgard Männlein-Robert / Wolfgang Rother / Stefan Schorn u.a. (Hgg.): Philosophus orator. Rhetorische Strategien und Strukturen in philosophischer Literatur (= Schwabe interdisziplinär; 10), Basel: Schwabe 2016, 435 S., ISBN 978-3-7965-3337-2, EUR 68,00

Rezension von:
Thomas Schirren
Universität Salzburg
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Schirren: Rezension von: Irmgard Männlein-Robert / Wolfgang Rother / Stefan Schorn u.a. (Hgg.): Philosophus orator. Rhetorische Strategien und Strukturen in philosophischer Literatur, Basel: Schwabe 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/06/27802.html


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