sehepunkte 17 (2017), Nr. 3

Philip Knäble: Eine tanzende Kirche

Ist die Kirche tanzfeindlich? Theologische Standardwerke erwecken diesen Eindruck. Schon früh habe die Kirche Tanzverbote ausgesprochen. Bereits 1999 trat der Musik- und Tanzhistoriker Walter Salmen dieser Einschätzung entgegen und meinte, die Kirche des Mittelalters sei zwar nicht überall, aber doch mancherorts eine ecclesia saltans, eine tanzende Kirche gewesen. [1] Eine solche These fordert Mediävisten heraus. Das gilt um so mehr, als Ulrike Zellmann vor nicht allzu langer Zeit auf eine Quelle verwies, die ein regelmäßiges, halb sportliches, halb liturgisches, mit Tanz verbundenes Ballspiel zweier Kleriker-Mannschaften gegeneinander in der Kirche von Auxerre in Frankreich erkennen ließe. [2] Vor allem dieser Aufsatz liefert den Ansatzpunkt der Bielefelder Dissertation von Philip Knäble.

Der Verfasser gibt einen ausführlichen Überblick über das Verhältnis von Kirche und Tanz vom Spätmittelalter bis heute. Dann grenzt er sein Thema ein und untersucht vier Tänze von Klerikern in den zwei französischen Städten Sens und Auxerre im Spätmittelalter: die "Pelotte" der Kathedralkanoniker an Ostern in Auxerre, die "Cazzole" der nämlichen Gruppe an Ostern in Sens, den Tanz des Kantors (préchantre balle) am 3. August und 1. September in Sens, und schließlich die Klerikertänze am Fest der Narren (fête des fous) zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag in Auxerre. Alle diese Tänze und Spiele sind im Laufe des 16. Jahrhunderts eingestellt worden. Doch was genau war es, das verboten wurde? Die ausführlichste Analyse widmet Knäble der "Pelotte" in Auxerre, die von einem Spielgerät - der pilota, einem Ball - ihren Namen hat.

Tatsächlich darf die Pelotte besonderes Interesse beanspruchen, weil bei dieser drei schon je für sich genommen bemerkenswerte Phänomene miteinander verknüpft sind: ein auf dem Boden der Kathedrale von Auxerre mit schwarzen und hellen Steinplatten markiertes Labyrinth (das leider nicht erhalten ist), der Tanz aller Mitglieder des Kathedralkapitels, der Gebrauch eines Balls. Der Tanz findet in der Kathedrale statt, und zwar genau an der Stelle, wo sich (seit etwa 1300, bestehend bis 1690) ein kreisrundes Labyrinth mit Durchmesser von ca. 10 m befand. Die Zeit des Tanzes ist der Nachmittag des Ostersonntags. Teilnehmer sind (wahrscheinlich) alle fünfzig Mitglieder des Kathedralkapitels; diese Gruppe gliedert sich in den Dekan des Kapitels, ein neu ins Kapitel aufgenommenes Mitglied, und die übrigen Mitglieder. Über den Vorgang selbst berichtet eine lateinische Quelle unbekannten Datums (16. Jahrhundert oder älter) mit folgenden Wortlaut:

"Nachdem er die Pilota [eine Art Ball] vom dazugekommenen oder neuen Kanoniker erhalten hatte, stimmte der Dekan, oder jemand für ihn, der einst auf dem Kopf eine Almutia [Kapuze mit Schulterkragen] gleich den anderen trug, den für das Osterfest bestimmten Wechselgesang an, der beginnt 'Victimae paschali laudes'. Mit der linken (Hand) den Ball ergreifend (laevâ pilotam apprehendens), tanzte er zu den rhythmischen Klängen des gesungenen Gebets ein tripudium, während die anderen an der Hand gefasst eine chorea um das Labyrinth tanzten. Unterdessen wurde der Ball vom Dekan abwechselnd an jeden einzelnen der Tänzer, die eine Reihe bildeten, übergeben oder geworfen. Das war das Spiel, und die Orgel bestimmte den Takt des Tanzes. Nachdem Lied und Tanz beendet waren, ging der Chor nach dem Tanz zum Essen. Dort saßen alle vom Kapitel, und auch die Kapläne und Bediensteten, mit einigen Vornehmen der Stadt im Kreis auf Bänken oder kreisförmig angeordneten Sitzen." (304 f.)

Der Tanz ist vermutlich so vorzustellen (Knäble erörtert verschiedene Möglichkeiten, ich wähle eine aus): Der Dekan steht in der Mitte des Labyrinths und vollzieht Tanzbewegungen; die Kapitulare bilden einen Reigen und umtanzen das Labyrinth. Mit der linken Hand wirft der Dekan den Ball immer einem Kapitular zu, erhält ihn zurück, und wirft den Ball dann dem nächsten zu. (Alternativ: der Ball wird nicht zugeworfen, sondern zugereicht.) Zum Tanz wird die Ostersequenz antiphonal gesungen, vermutlich in versweiser Abwechslung zwischen dem Dekan und den Reigentänzern. Den Gesang unterstützt die Orgel. Vermutlich endet der Tanz, sobald jeder den Ball einmal in der Hand gehalten hat. (Gegeneinander positionierte Parteien, wie Zellmann annimmt, kann Knäble nicht erkennen.)

Nach Knäble kommt dem Pelotte-Tanz eine mehrfache Bedeutung zu: (1) Es handelt sich um die liturgisch vollzogene Aufnahme eines neuen Mitglieds ins Kathedralkapitel. Der Neuling muss persönlich anwesend sein, dem Dekan einen von ihm selbst gestifteten Ball überreichen, und dann am Tanz teilnehmen. (2) Im Blick auf das Labyrinth begeht der Tanz den Sieg Christi über den Satan - darauf weist das Labyrinth, das an den (allegorisch auf Christi Sieg gedeuteten) Sieg des Helden Theseus über den im Labyrinth versteckten stiergestaltigen Minotaurus erinnert. (3) Der Tanz als Darstellung harmonischer Bewegung deutet auf die durch Christi Sieg wiederhergestellte kosmische Ordnung hin. (4) Dem Ball kommen verschiedene Bedeutungen zu. Er symbolisiert den Erdklumpen, den Theseus dem Minotaurus in den Mund warf, um ihn zu töten. Er repräsentiert auch das Weltall; das ergibt sich aus einem Relief am Westportal, das eine sitzende Gestalt mit großer Kugel in der linken Hand darstellt. Die Gestalt ist als der die Welt erschaffende Gott zu verstehen.

Alles das ist sehr einleuchtend, ohne dass die Deutung der Elemente des Rituals interpretatorisch ausgeschöpft wäre. Der biblische Zusammenhang der Erschaffung der Welt mit dem Tanz ist dem Autor offenbar entgangen. Nach dem biblischen Buch der Sprichwörter war die als Person vorgestellte Sapientia bei der Schöpfung anwesend: cum eo eram, cuncta componens. Et delectabar per singulos dies, ludens coram eo omni tempore, ludens in orbe terrarum; et deliciare meae esse cum filiis hominum (Proverbia 8,30-31): "[...] als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich bei ihm (dem Schöpfer), und fügte alles zusammen. Und ich erlustigte mich Tag für Tag und spielte/tanzte vor ihm allezeit, spielte/tanzte auf dem Kreis der Erde, und meine Lust ist, bei den Menschenkindern zu sein." Da fragt man sich doch: Hat sich der in der Mitte seiner Mitkanoniker tanzende Dekan vielleicht als Vertreter der tanzenden/spielenden Sapientia (Weisheit) verstanden? Als jemand, der cuncta componens, alles zusammenfügt, indem er die Mitglieder des Kathedralkapitels zu einer Einheit verschmelzen lässt?

In der Danksagung des Autors erscheint kein Theologe oder Philosophiehistoriker. Vermutlich hätte die Konsultation von Fachleuten wie Arnold Angenendt, Thomas Lentes oder Kurt Flach geholfen, die Abschnitte über mittelalterliche Liturgiker und die areopagitisch-neuplatonische Tradition etwas schärfer und ertragreicher zu gestalten. Dennoch: Philip Knäble verdanken wir ein überzeugendes und anregendes Buch. Leider fehlt ein Sachregister.


Anmerkungen:

[1] Walter Salmen: Tanz und Tanzen vom Mittelalter bis zur Renaissance, Hildesheim 1999, 24.

[2] Ulrike Zellmann: Lusus erat. Tanz und Spiel auf dem Labyrinth in der Kathedrale von Auxerre, in: Hans Richard Brittnacher / Rolf-Peter Janz (Hgg.): Labyrinth und Spiel, Göttingen 2007, 36-74.

Rezension über:

Philip Knäble: Eine tanzende Kirche. Initiation, Ritual und Liturgie im spätmittelalterlichen Frankreich (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 436 S., 12 Farbabb., ISBN 978-3-412-50189-1, EUR 50,00

Rezension von:
Bernhard Lang
Universität Paderborn
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Lang: Rezension von: Philip Knäble: Eine tanzende Kirche. Initiation, Ritual und Liturgie im spätmittelalterlichen Frankreich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 3 [15.03.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/03/29661.html


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