sehepunkte 17 (2017), Nr. 2

Sebastian Zeidler: Form as Revolt

Weil sie - in der Regel - materiell gegenwärtig ist, sei die Geschichte der Kunst "viel aktiver" als die "latente" Geschichte der Ereignisse, schreibt Carl Einstein in einem der Notate im Zusammenhang seines Fragment gebliebenen "Handbuchs der Kunst" aus dem Nachlass der 1930er-Jahre. [1] Solche Aktivität der als Objekte überlieferten und damit zwangsläufig entkontextualisierten Kunstwerke charakterisiere ein "monstroeses sonderleben innerhalb ihnen fremden milieus", dem sich das "misverstaendnis von der ewigkeit der KW [Kunstwerke], und teilweise die eigentuemliche scheu vor ihnen" verdanke. In dieser potenziell verführerischen Bannkraft der Objekte entdeckte Einstein ein zentrales Problem der dem Fach Kunstgeschichte zugrundeliegenden epistemologischen und ontologischen Annahmen. Ausgerechnet das "materielle vorhandensein" der Werke der Vergangenheit befördere einen ahistorischen, idealisierenden, rückwärtsgewandten Diskurs. Die Geschichtsvergessenheit der jungen Disziplin (ihr Selbstverständnis als "Historie der Selbstbewegung der Formen in Stile" [2], welches ihr den Charakter einer naturgeschichtlichen "Morphologie der Objekte" [3] verleihe) war in Einsteins Augen als Teil einer antihistorischen und antimaterialistischen Tendenz der Epoche der kapitalistischen Moderne im Ganzen aufzufassen. Denn alles Geschichtliche widersetze sich dem Begehren der "heutigen individualisten", "sich ausserhalb des seins und der gemeinschaft" zu stellen.

Wie nur wenige andere Autoren und Autorinnen der Zeit um 1930 - man imaginiert unweigerlich einen Höhenkamm, auf dem Benjamin, Warburg, Bataille oder Kracauer wandeln - gelang es Einstein wie in dem zitierten Beispiel, Zeitdiagnostik, Geschichtsphilosophie, Ethnologie und Kunsttheorie so zu verschalten, dass paradigmatische historische Verschiebungen der Funktionen von Kunst greifbar wurden. Dabei dokumentiert das "Handbuch"-Projekt einen multidisziplinären Ansatz, der zudem die Überwindung kunsthistorischer Fetischismen (Autonomie, Genie, Stil) betreibt. Obwohl die Forschung zu diesem Denken und dessen Urheber, einer außergewöhnlichen Figur des intellektuellen und politischen Lebens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, seit den 1960er-Jahren kontinuierlich voranschreitet, wird die Faszination Carl Einsteins erst seit etwa fünfzehn Jahren außerhalb eines beschränkten, überwiegend in der deutschen und französischen Literaturwissenschaft beheimateten Kreises wahrgenommen und produktiv gemacht. Und es ist ausgerechnet die von Einstein skeptisch auf Distanz gehaltene Disziplin der Kunstgeschichte, die an dieser Neuentdeckung den entscheidenden Anteil hat. Uwe Fleckner, Charles W. Haxthausen, Maria Stavrinaki, Joyce Cheng, Andreas Michel, David Quigley oder Georges Didi-Huberman machten und machen Einstein als transdisziplinären Theoretiker von größter Relevanz, nicht nur für das Fach, zugänglich und intelligibel.

Zu den überragenden jüngeren Forschern und Forscherinnen, die sich auf das anspruchsvolle, aber auch ungewöhnlich dynamische Feld der Einstein-Studien begeben haben, gehört Sebastian Zeidler. Mit Form as Revolt. Carl Einstein and the Ground of Modernism legt er nun die bisher nur in Aufsätzen zugänglichen Ergebnisse seiner langjährigen Forschung vor. Zeidlers Buch führt in Einsteins literarisches und kunsttheoretisches Werk ein, sprengt aber zugleich das Format der Monografie an so gut wie jedem Punkt seines Textes. Form as Revolt handelt entschieden weniger über den historischen Autor als mit ihm. Im skrupulösen, am Poststrukturalismus, an Derrida und Deleuze geschulten Versuch, die spezifische Verschränkung von Formen und Inhalten in Einsteins Denken und Schreiben herauszuarbeiten, um Einstein gewissermaßen neu zu schaffen, entdeckt und entwickelt Zeidler die Elemente einer Kunstgeschichte der Moderne vor dem Hintergrund der offenkundigen Krise wesentlicher Achsen der Disziplin, von der Semiologie bis zur social art history.

Dabei dient Einstein Zeidler nicht nur als Gegenstand der Analyse, sondern vielleicht mehr noch als Rollenmodell und methodologische Inspiration. Wie Einstein geht Zeidler der Auseinandersetzung mit den Granden des Fachs nicht aus dem Weg. Immer wieder benennt er seinen Standpunkt im Feld der aktuellen Kunstgeschichte. Mit begründeten Wertungen sowohl hinsichtlich der Forschungsliteratur wie der Quellentexte hält er sich nicht zurück. So begegnet in der Lektüre, auch des umfangreichen Anmerkungsapparats, ein meinungsstarker Autor, der seinen Dissens artikuliert - etwa, wenn er Georges Didi-Huberman, Rosalind Krauss und Yve-Alain Bois "gratuitious celebrations of negativity in art, politics, or philosophy" (283, Anm. 4) vorwirft; oder sich, bei aller Wertschätzung, von T.J. Clarks "account of cubism as counterfeit" abgrenzt (279, Anm. 41).

Mit den "Werkzeugen", die Einstein bereitstelle, so Zeidler selbstbewusst, könne "völlig neu auf den Kubismus geblickt werden" (23). Phasenweise gleitet dadurch eine Abhandlung, die nominell Einstein gewidmet ist, in eine von Einstein (allerdings nur scheinbar) unabhängige Auseinandersetzung mit Picasso, Braque oder Klee über - so sehr, dass durchaus ein anderer Titel des Buches vorstellbar gewesen wäre (wie zum Beispiel "Picasso's Hinge and Braque's Open Cylinder").

Die zentrale These, die im Untertitel angedeutet ist, freilich bleibt durch solche Dehnungen des Formats der Monografie ungefährdet. Im Gegenteil, der "ground of modern art" von dem hier die Rede ist, entpuppt sich rasch als Chiffre für eine theoretische und ästhetische Operation, die Zeidler ausgehend von Einstein, mehr noch: als bekennender "Einsteinian Nietzschean" (278, Anm. 41), in Einsteins intellektueller Entwicklung ebenso am Werk sieht wie in der Kunst Picassos. Im ersten Kapitel ("The Lost Wanderer") wird ein Leitmotiv in Einsteins Denken in der Überzeugung aufgespürt, dass jeglicher "Grund" oder "Ursprung", jedes "Wesen" oder "Fundament" prinzipiell unzugänglich sei. Für Einstein gelte, dass "our selves and our work, our identity and our poetic meaning, are always precarious achievements built on a void, grounded in a fundamental groundlessness" (27). Diese paradoxe Figur der "fundamentalen Bodenlosigkeit", einer Ungründbarkeit oder Unverfügbarkeit, durch die eine Revolution als "groundless invention" (259, Anm. 38) recht eigentlich erst möglich ist, fuße bei Einstein wiederum in der Philosophie der Frühromantik und des deutschen Idealismus und führe zu seiner Ablehnung kausalen Schließens und theologischer Bezugsgrößen wie "Gott".

Zeidler bestimmt nicht nur die philosophische Genealogie der "groundlessness" bei Einstein (wie bei Picasso), sondern liefert zudem einen wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Forschung, indem er überzeugend belegt, wie wenig mit einer einseitigen Betonung der semantischen oder der formalen Aspekte dieses Schreibens gewonnen ist und wie viel verloren geht, wenn der Materialität der Literatur umstandslos theoretische Valenz zugeschrieben wird. Das Zusammenspiel - oder besser: die dialektische Spannung - von "discourse" und "writing" bei Einstein äußert sich vielmehr darin, dass die Ungründbarkeit auf der einen Ebene zum ontologischen Versprechen eines Neubeginns werden konnte, während sie auf der anderen Ebene, oft in einem Atemzug, den Zusammenbruch der Welt im "Nihilismus der Grammatik" (21) betrieb. Die Unsicherheit, die sich einstellt, wenn anhand dieser Prosa zu unterscheiden ist zwischen einem auf persönlichen Überzeugungen beruhenden theoretischen Argument und einer "grammatischen Konstellation, die nur so aussieht wie ein Argument" (20), lässt Zeidler aber nicht verzweifeln, sondern von einer "sehr präzisen Armatur" (21) sprechen, mit der Einstein alle möglichen semantischen Komplexe für seine Zwecke organisiert und weitertreibt.

In Kapitel 2 ("Sculpture Ungrounded") legt Zeidler eine konzise Neuinterpretation und Kontextualisierung von Einsteins legendärer Negerplastik (1915) vor. Statt dieses schmale Buch einmal mehr als primitivistisches Manifest zu lesen, erweist es sich hier als Begegnung zwischen dem im ersten Kapitel vorgestellten "verlorenen Wanderer", Einsteins multipler Figur mobiler Identifikationen aus seiner Lyrik und Prosa der 1910er-Jahre, und einer Ansammlung "entwurzelter Objekte" (89). In sorgfältiger Abgrenzung von Adolf Hildebrandts Konzept einer organisch in ihrer Umwelt verankerten Skulptur, wendet sich Einsteins Phänomenologie der afrikanischen Skulptur gegen jede Spekulation auf deren Ursprünglichkeit. Angeleitet von Einstein, lenkt Zeidler den Blick auf die Funktion des Sockels in der abendländischen und der afrikanischen Bildhauerei. Statt eine Verbindung zwischen Skulptur und Territorium, Gesellschaft oder Nation herzustellen, widersetze sich die afrikanische Skulptur durch die Auflösung der Differenz zwischen Sockel und Bildwerk der Integration in eine außerkünstlerische Totalität. "Wherever the object will happen to be placed, it will seem out of place." (88) Man mag einwenden, dass sich in dieser Beobachtung zur Sockelfunktion ein eurozentrisches Kunstverständnis äußert. Doch wird zugleich deutlich, wie wenig die von Zeidler hier betonte Verweigerung jeder kulturellen oder geografischen Verortung jenem ethnologischen Blick auf die außereuropäische Kunst entspricht, den Einstein in den Jahren und Jahrzehnten nach Veröffentlichung der Negerplastik zu kultivieren versuchen wird.

Der "Grundkontrast", die Spannung zwischen Raum und Leinwand, Darstellung und Medium, den Einstein im Kubismus untersucht, steht im Zentrum von Kapitel 3 ("Cubism's Passion"), einer fulminanten, detailreichen und innovativen Studie über die "Bildobjekte" und "Bildkörper" bei Picasso und Braque um 1911/12. Zeidler unterzieht sich dieser Mühe, weil er - auf Tuchfühlung mit T.J. Clarks Picasso and Truth (2013) - zeigen will (und zeigen kann), wie sich bei Picasso "eroticism, hallucination, pornography, and a pedantic rage for order" (143) ineinanderfügen, während Braque die vermeintliche Abfolge und Gerichtetheit von Erfahrung in eine "unpredictable openness" (123) aufschießen ließ. Wenn Braques Malerei des Neubeginns als Pendant zur Revolutionstheorie Rosa Luxemburgs (an deren Grab Einstein eine Rede gehalten hat) gelten kann, so wäre Picassos Verbindung aus selbstgenügsamer Befreiung und Ordnung eher mit Georges Sorel in Verbindung zu bringen (vgl. 155). Solche Analogien mögen im Rahmen einer kurzen Besprechung wie dieser überspannt anmuten, am Ende eines knapp sechzig Seiten langen Kapitels, aus dem andere ohne zu zögern ein eigenes Buch gemacht hätten, lesen sie sich vollkommen plausibel.

Die abschließenden Kapitel 4 ("The Double Style") und Kapitel 5 ("Private Mythologies") sind Einsteins Arbeiten der späten 1920er- und 1930er-Jahre gewidmet, und man könnte befürchten, dass diese kunsttheoretisch so entscheidende Zeit im Vergleich zu den Jahren bis etwa 1915 ein wenig zu kurz kommt; aber die Sorge ist unberechtigt. Zeidler fährt fort, die konzeptuelle Batterie der Schriften Einsteins während seiner Tätigkeit als Mitherausgeber von Documents (1929/30), seiner weitreichenden Revision der Kunst des 20. Jahrhunderts für deren dritte Auflage von 1931, der Verfertigung der Antimonografie Georges Braque (1934) und der Arbeit an der gegen jeden künstlerisch-intellektuellen Individualismus gerichteten Anklageschrift Fabrikation der Fiktionen sowie dem schon erwähnten "Handbuch der Kunst" zu sondieren. Er konzentriert sich auf die Opposition von "Tektonik" und "Psychogramm", zwei Prinzipien, deren Koexistenz er in den Bildern Picassos aus den späten 1920er-Jahren als prägende Doppelung beschreibt. Zeidler räumt ein, ihm sei es nicht gelungen, diese Gleichzeitigkeit in Einsteins Denken analytisch einzuholen. Stattdessen habe er "a consecutive narrative" gewählt, um zunächst den Picasso vorzustellen, wie ihn Einstein sehen wollte und sodann den Picasso, "he couldn't help seeing at the same time" (158). Diese Erzählung mündet in einer brillanten, hegelianischen Analyse der Dialektik der doppelten Negation in zwei Atelierbildern Picassos von 1927 und der Serie der "Akrobaten" von 1930.

Zum Ende begibt sich Zeidler in "Einstein's most expansive project", seine Theorie des Wirklichen. Diese hätte, einmal konsequent durchgeführt, das Zeug zu einem Mille Plateaux der 1930er-Jahre gehabt (25), und in ihrem Zentrum steht Paul Klee. Die "metamorphotische Revolte", von Einstein um 1930 beharrlich proklamiert, vollzieht sich angesichts einer "Realität", in der die Dämme zwischen Objekt und Subjekt gebrochen sind, wodurch die Kreativität des Realen selbst zum Tragen kommt - als "Form" (Einstein), als formende Kraft, als Matrix der sich wandelnden Gestalten. Klees animistische Malerei der Tiere, Pflanzen und Mineralien hat ihre Voraussetzung in der fortwährenden Freisetzung der Phänomene und Figuren: "Such is the anarchism of arché-creation" (243). Aber Klee bereitet Einstein nicht nur Freude. Die Gegenwelt, die dessen künstlerische Negation des Vorfindlichen entstehen lässt, ist bisweilen in ein Übermaß an Ironie getaucht. So wird ein Ressentiment gegen jedwede Welt spürbar, sobald Klee eine fiktive Realität erfindet - "a fiction that locates itself squarely within that most confining of given worlds: the modern art world" (247). Klees "private Mythologien" (Einstein) müssen als problematisches Oxymoron gelesen werden; denn diese Miniatur-Kosmologien suggerieren eine nachrevolutionäre Kollektivität dort, wo nur noch das Individuum ist.

Form as Revolt mündet folgerichtig in einer melancholischen Note darüber, wie weit entfernt man heute von der Möglichkeit einer (politischen) Kunst als "active production of new worlds" (251) sei. Einstein für die Gegenwart zu erschließen, ist wohl unvereinbar mit einem daran geknüpften Appell an künstlerisches Engagement. Doch demonstriert Zeidler dafür, wie Einstein zum Anlass einer Kunstgeschichte werden kann, die nicht morphologisch, sondern metamorphotisch ist.


Anmerkungen:

[1] Carl Einstein: Werke. Berliner Ausgabe. Band 4. Texte aus dem Nachlaß I, hgg. von Hermann Haarmann / Klaus Siebenhaar, Berlin 1992, 432 [dort auch die nachfolgenden Zitate].

[2] Carl Einstein: Georges Braque [1934], in: Werke. Berliner Ausgabe. Band 3: 1929-1940, hgg. von Hermann Haarmann / Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, 260.

[3] Einstein: Werke. Berliner Ausgabe. Band 4, 367.

Rezension über:

Sebastian Zeidler: Form as Revolt. Carl Einstein and the Ground of Modern Art (= Signale. modern german letter, culturs, and thought), Ithaca / London: Cornell University Press 2015, XI + 306 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-1-5017-0208-2, USD 99,95

Rezension von:
Tom Holert
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tom Holert: Rezension von: Sebastian Zeidler: Form as Revolt. Carl Einstein and the Ground of Modern Art, Ithaca / London: Cornell University Press 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/02/29958.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.