sehepunkte 16 (2016), Nr. 12

Ewald Blocher: Der Wasserbau-Staat

In Anbetracht der großangelegten Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre, die derzeit in Äthiopien gebaut wird, um den Blauen Nil zu stauen, sowie vergleichbarer Megaprojekte in anderen Ländern Afrikas, in Indien, China und Brasilien ist die vorliegende Studie am Puls der Zeit. Ewald Blocher erzählt gewissermaßen die Vorgeschichte dieser Projekte. Er tut dies, indem er den Blick auf die Staatswerdung Ägyptens vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zu den 1970er Jahren richtet und seine Geschichte mit besonderem Fokus auf den Dammbau, die wasserbauliche Entwicklung am Nil schreibt. Damit wählt Blocher keine reine sozial- oder politikgeschichtliche Perspektive, sondern richtet sein Augenmerk auf die Regulierung des Nils als technische Konstante, die seinen Untersuchungszeitraum durchzieht. Der Autor spürt der Frage nach, wie sich das Land am Nil als "kleinägyptischer Nationalstaat" konstituierte und wie dies entgegen der bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus dominanten Vorstellung eines "Großägypten" und einer "Einheit des Niltals" geschah (9). Mit der Regulierung des Stroms, so seine These, sei auch der Staatswerdungsprozess in geregelte Bahnen gelenkt und mit der Vollendung des Assuan-Hochdammes 1971 abgeschlossen worden. Aus einer hydraulischen Territorialisierung sei eine politische entsprungen. Wasserbauingenieure wurden in dieser Sichtweise zu Konstrukteuren des Staates. Die Regulierung des Stroms habe jedoch nicht nur auf die Veränderung des Flusses gezielt, sondern sei ein groß angelegtes Modernisierungsprojekt für die ägyptische Gesellschaft gewesen. Bei der Ausführung hätten sich jedoch verschiedene Konzepte der britischen kolonialen Ingenieure und ihrer ägyptischen Kontrahenten gegenübergestanden. Die Umgestaltung des Nils zu seiner heutigen Form sei damit keinesfalls determiniert gewesen.

Als Teilnehmer des Doctoral Program "Environment and Society" des Rachel Carson Center wurde Ewald Blocher 2014 mit der hier rezensierten Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München promoviert. Blocher gliedert sein Buch in vier Teile: die Modernisierung des Landes, den Entwurf, die Kontrolle und die Konfiguration des Nils. Darin zeichnet er nacheinander den eng mit der Flussregulierung verbundenen Modernisierungsdiskurs nach und berichtet anschließend über einen Prozess der Sichtbarmachung des Stromes durch Kartografie. Von dort leitet er zum machtpolitischen Konflikt zwischen Großbritannien und Ägypten um die Kontrolle des Stroms über, der die Konstituierung Ägyptens durch den Bau des Assuan Hochdamms nach sich zieht. Dieser sei im Bewusstsein der Zeitgenossen als neue Nilquelle angesehen worden und habe die hydropolitische Unabhängigkeit Ägyptens bedeutet (300).

Der Autor lädt zu einem interessanten Rundflug ein, der von Großbritannien nach Ägypten führt, dort einige Schleifen über dem Nil dreht, um anschließend wieder zurückzuführen. Es sind die Ingenieure und Politiker, die dabei in das Zentrum der Betrachtung rücken. Zweifellos bedeutet dies eine neue, erkenntnisreiche Perspektive, aus der die Geschichte des Landes (und darüber hinaus auch jene anderer wasserregulierender Staaten) gesehen werden kann, zumal Blocher einer afrikanischen Nationalstaatsbildung nachspürt, die wie wohl kaum eine zweite im Spannungsfeld zwischen (Post-)Kolonialismus und Ost-West-Konflikt steht. Diese Darstellung ist nicht leicht, denn die politische Führungsebene Ägyptens war zugleich Akteur in den Konflikten und Spielball der Entwicklungen im Beziehungsgeflecht zwischen Großbritannien, den USA und der Sowjetunion. Zudem musste sie die eigene Rolle im Bezug zum Sudan neu überdenken, der zunächst als Teil des Landes oder gar als ägyptische Kolonie angesehen wurde. Der Nil als Lebensader Ägyptens war dabei für alle Akteure wesentlich, seine Regulierung fester Bestandteil aller politischen Planungsszenarien.

Die faszinierende Gestalt des Ingenieurs als eine der Schlüsselfiguren des 20. Jahrhunderts macht der Autor bei diesem Flug über 90 Jahre ägyptischer Geschichte zum Piloten und Reiseleiter. Der Leser erfährt, dass britische Vertreter dieses Berufsstandes sich in Ägypten auf "hydraulischer Mission" zur Regulierung des Nils befunden und das Sendungsbewusstsein auf ihre einheimischen Kollegen übertragen hätten. Mit dem Aufkommen der Kartografie sei die technische Weltsicht der Ingenieure mit Vorstellungen von Raum eine Liaison eingegangen, die schließlich zu neuen Imaginationen von Hydrologie, Geologie und Raumpraktik geführt habe.

Die vorliegende Monografie fügt sich in eine Reihe von anderen gelungenen kulturgeschichtlichen Studien über Dammbau und Wasserregulierung, wie die von Julia Tischler "Light and Power for a Multiracial Nation. The Kariba Dam Scheme in the Central African Federation" (London / New York 2013) oder die von Klaus Gestwa "Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948-1967" (München 2010).

Blocher füllt mit seiner Arbeit über den ägyptischen Fall nicht nur einen weiteren weißen Fleck der historischen Landkarte mit Farbe, sondern die Vogelperspektive seines geschichtlichen Ausflugs erlaubt es, ein erfolgreiches technokratisches und nationales Projekt der Dekolonisierung von oben zu betrachten, ohne optionale Wege und Gegenentwürfe der Nilstauung auszublenden. In Blochers Arbeit wird die Hochmoderne gewissermaßen zu einer Epoche der Wasserregulierung, die Wasserregulierung zum Programm des Kolonialismus und der Dekolonisierung. Allerdings lässt sich die gewählte Periodisierung hinterfragen, denn es begannen - und dies wird wenig thematisiert - die Bestrebungen zur Regulierung des Nils in Ägypten weder mit den Briten, noch endeten die Pläne, das Nilwasser möglichst umfassend zu nutzen, mit deren Abzug oder dem Bau des Assuan-Hochdammes. Auch wenn die Argumentation über weite Teile überzeugt, erscheint durch die Wahl des Untersuchungszeitraums das gezeichnete Bild kolonialgeschichtlich schattiert.

Für seine Dissertation recherchierte Blocher in neun verschiedenen Archiven, in England, den USA und Deutschland. Den in Ägypten mitunter äußerst schwierigen Zugang zu staatlichen Archiven - durch die aktuelle politische Lage weiter erschwert - umgeht er und fängt das Manko durch seine Quellenvielfalt gut ab. Insgesamt ist die Studie ein sehr aufschlussreicher Ausflug, allerdings bietet sie dem Passagier nicht die Möglichkeit, auszusteigen um mehr über die Gegebenheiten vor Ort zu erfahren. Die Distanz zu den Ägyptern bleibt vorhanden, vor allem soziale und kulturelle Konflikte am Ort des Dammbaus werden kaum thematisiert. Obwohl Blocher wasserbauliche Probleme nach der Fertigstellung des Assuan-Hochdammes aufzeigt, bleibt die Darstellung, durchaus zu Recht, eine nationale Erfolgsgeschichte der ägyptischen Staatswerdung. Den Verlierern des Prozesses wird dabei jedoch kaum eine Stimme gegeben.

Ungeachtet dieser Einschränkung ist das Buch überaus lesenswert. Es gibt einen Einblick in die Welt der Wasserbauingenieure am Nil britischer und ägyptischer Herkunft, die Art und Weise wie sie ihr Handeln rechtfertigten, und die politische Wirkung ihres Einflusses.

Rezension über:

Ewald Blocher: Der Wasserbau-Staat. Die Transformation des Nils und das moderne Ägypten 1882-1971 (= Geschichte der Technischen Kultur; Bd. 1), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 377 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78446-9, EUR 49,90

Rezension von:
Benjamin Brendel
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Empfohlene Zitierweise:
Benjamin Brendel: Rezension von: Ewald Blocher: Der Wasserbau-Staat. Die Transformation des Nils und das moderne Ägypten 1882-1971, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/12/29618.html


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