sehepunkte 16 (2016), Nr. 11

Albrecht Riethmüller / Michael Custodis (Hgg.): Die Reichsmusikkammer

Auch siebzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus vermag eine Tagung über die Reichsmusikkammer polarisierende und polemische Debatten auszulösen. Der Streit entbrannte bereits auf der Konferenz von 2013 an der Frage, ob der Präsident der Reichsmusikkammer, Peter Raabe, "Widerstand" gegen seinen Vorgesetzten Goebbels geleistet habe. Der Mitherausgeber des nun vorliegenden Tagungsbands, Albrecht Riethmüller, wurde anschließend im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" indirekt dafür kritisiert, dass er in der Schlussdiskussion die Verhältnismäßigkeit der Verwendung des Begriffs "Widerstand" gewahrt wissen wollte. [1] Man befand sich während der Diskussion in dem Haus, in dem sich der frühere Direktor der Funk-Stunde Berlin im September 1933 das Leben genommen hatte, nachdem er als Verteidiger der Meinungsfreiheit von der Gestapo verhaftet und misshandelt worden war. [2] Auch vor diesem Hintergrund ist einzuordnen, dass Raabe lediglich einmal die Absicht geäußert hatte, sein Amt niederzulegen, um sich dann doch bis zum Schluss an der NS-Kulturpolitik zu beteiligen.

Warum verdient die Reichsmusikkammer stärker als bisher musikwissenschaftliches und zeithistorisches Interesse? Gegründet im September 1933 als eine von sieben Unterkammern der Reichskulturkammer, unterstand sie dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und seinem Minister Joseph Goebbels. Die Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer wurde zu einem Muss für jeden professionellen Musiker: Ohne eine gültige Mitgliedschaft konnte man seinen Beruf nicht mehr ausüben. Die Kammer entwickelte sich zu einem Kontrollapparat mit enormem Einfluss und universalem Anspruch, der angesichts seiner Bedeutung für die NS-Kulturpolitik noch zu wenig erforscht ist. Der Sammelband widmet sich vor allem der Frage: Wer waren die Menschen hinter diesem System? In mehreren Beiträgen werden exemplarisch einige Protagonisten des Musiklebens vorgestellt, die entweder in der Reichsmusikkammer wirkten oder aus ihr ausgeschlossen waren und sich zu ihr verhalten mussten.

Die Bandbreite reicht von Paul Hindemith über Paul Graener, Werner Egk und Heinz Drewes bis hin zu Richard Strauss. Der Münchner Komponist wird unter zwei Aspekten behandelt: Gerhard Splitt widmet sich seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Reichsmusikkammer bis zu seinem erzwungenen Abschied, Jürgen May untersucht ein Goebbels gewidmetes Lied aus dem Jahr 1933. Ob das Werk ein "Bekenntnis zur Führertreue oder Camouflage" ist, lässt sich nach Mays Ansicht allerdings nicht vollständig beantworten. Insgesamt liegt das Hauptaugenmerk der Beiträge auf Tondichtern mit leitender Funktion, etwa auf Paul Graener, dem Leiter der Fachschaft Komponisten, dem 1941 Werner Egk nachfolgte. Andreas Dormann schildert, wie sich Goebbels' Meinung über die Eignung Graeners für kulturpolitische Ämter im Laufe der Zeit wandelte. Aufschlussreich ist das neue Quellenmaterial aus dem Archiv des Schott-Verlags, mit dem Friedrich Geiger belegt, dass nach 1945 eine Einstufung Egks als "Nutznießer" des NS-Regimes durchaus berechtigt gewesen wäre (90). Egk verstand es offenbar besser, im System der sich überlappenden Kompetenzen zu agieren als sein Vorgänger Graener. Die neu entdeckten Briefe, die Egk an seinen Verleger schrieb, belegen seine Nähe zum Regime. Die Verteidigungsstrategie, die der Komponist in seinem Entnazifizierungsverfahren verfolgte, lässt sich so teilweise als nachträgliches Entlastungsnarrativ entlarven: Seine Ernennung, so Egk 1947, sei für ihn völlig überraschend gewesen und das Amt unwichtig und unpolitisch. Das große Medienecho auf die damalige Personalentscheidung und die Verleihung des "Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse ohne Schwerter" 1943 lassen seine Tätigkeit, so Geiger, indes weitaus weniger "unwichtig und unpolitisch" erscheinen. Ein anderer Blickwinkel wird durch die Position Paul Hindemiths aufgezeigt, die Susanne Schaal-Gotthardt anhand eines Gedichts des Komponisten beleuchtet. In "Die Geflügelzucht" reflektierte der Komponist in zynisch-melancholischer Sprache seine eigene und die allgemeine musikpolitische Lage. Hindemith sah seine Werke ab 1936 mit einem offiziellen Aufführungsverbot belegt und entschloss sich 1938 zur Emigration. Hindemith, beim selben Verleger tätig wie Egk, erlebte bezüglich seines Schaffens und seiner Person das nationalsozialistische Regime ganz anders als der sechs Jahre jüngere Egk. Bevor Hindemith sich endlich dazu entschließen konnte, Deutschland zu verlassen, kämpfte er jahrelang mit der Ungewissheit, ob seine Werke gespielt würden oder nicht. Die Aufführungen von Egks Werken wurden dagegen von Goebbels persönlich gefördert.

Nach der Analyse Andreas Dormanns waren nicht die strukturellen Rahmenbedingungen des berufsständischen Aufbaus der Kammer das bestimmende Maß, sondern persönliche Kontakte. Eine grundsätzliche Abhängigkeit vom Propagandaministerium und seinem Minister wird jedoch in Martin Thurns Beschreibung des Leiters der Musikabteilung, Heinz Drewes, konkretisiert. Der Beitrag bietet außerdem im Anhang einen Überblick über die Abteilungen und Referate im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Oliver Rathkolb und Sophie Fetthauer vertiefen die Einblicke in die Wirkungsgeschichte der Reichsmusikkammer. Fetthauer beschäftigt sich dabei mit der "Ausgrenzung jüdischer Musiker und Musikerinnen aus dem deutschen Musikleben" (47). In diesem Zusammenhang hätte vielleicht auch noch ein Querverweis auf die Zusammenarbeit zwischen der Hauptstelle Musik im Amt Rosenberg und dem Leiter der Abstammungsnachweise in der Reichsmusikkammer Aufschluss über die personalen Netzwerke geben können. [3] Der Band schließt mit Beiträgen von Oliver Bordin und Michael Custodis. Bordin untersucht ausgehend von Geheimdienst-Berichten des Sicherheitsdienstes die Tätigkeit von Dirigenten, die als Mitglieder der Reichsmusikkammer im besetzten und / oder befreundeten Ausland zu Propagandazwecken auftraten. Einen Ausblick auf die Nachkriegszeit bietet der Beitrag von Custodis über das Spruchkammerverfahren Fritz Steins, der unter anderem Fachschaftsleiter in der Abteilung Chorwesen und Volksmusik war.

Bei der Vielzahl von Einzelbeiträgen bleibt das genaue Verständnis des systemischen Gesamtwirkens der Reichsmusikkammer auf der Strecke. Der vorliegende Band vermittelt dennoch einen guten Überblick von verschiedenen Betrachtungspunkten aus. Dabei werden diejenigen, die in Leitungsfunktionen tätig waren ebenso berücksichtigt wie die Mitglieder und Ausgeschlossenen, Mechanismen der inneren Abläufe ebenso aufgezeigt wie steuernde Einflüsse von außen. Der Vorsatz der Herausgeber wird durchaus eingelöst: Man wolle aus "Umrissen schärfere Konturen hervortreten" lassen (13). Diese gilt es künftig zu einem Gesamtbild zu erweitern.


Anmerkungen:

[1] Jan Brachmann: War es Bekenntnis oder Camouflage?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juli 2013.

[2] Friedrich Georg Knöpfke nahm sich am 14. September 1933 nach seiner Verhaftung und Misshandlung durch die Gestapo das Leben. Vgl. Albrecht Dümling: Von Musikern ersehnt, durch Goebbels ausgehöhlt. Eine Berliner Tagung zur Reichsmusikkammer, in: Neue Musikzeitung 62 (September 2013).

[3] Siehe Bärbel Schrader: Jederzeit widerruflich. Die Reichskulturkammer und die Sondergenehmigungen in Theater und Film des NS-Staates, Berlin 2008, 165.

Rezension über:

Albrecht Riethmüller / Michael Custodis (Hgg.): Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der Nazi-Diktatur, Wien: Böhlau 2015, 252 S., ISBN 978-3-412-22394-6, EUR 29,99

Rezension von:
Felicitas Schwab
München
Empfohlene Zitierweise:
Felicitas Schwab: Rezension von: Albrecht Riethmüller / Michael Custodis (Hgg.): Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der Nazi-Diktatur, Wien: Böhlau 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15.11.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/11/28799.html


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