sehepunkte 16 (2016), Nr. 10

Oliver Borszik: Irans Führungsanspruch (1979-2013)

Die politische Elite im Iran erhebt seit 1979 den Führungsanspruch auf die Golfregion und den Vorderen Orient, der vorgeblich nicht nur eigennützig zur Ausübung von Macht gebraucht, sondern in den Dienst einer höheren Mission gestellt werden soll. Oliver Borszik zeichnet in seiner Studie den Aufstieg Irans zur Regionalmacht an Hand verschiedener Staatsoberhäupter nach. Die Zeitspanne beginnt mit der Islamischen Revolution 1979 unter Ayatollah Khomeini und endet 2013 mit der Präsidentschaftswahl Hassan Rohanis.

Der Autor versucht in seiner Dissertationsschrift die These zu stützen, dass der Iran die für sich beanspruchte Führungsrolle nicht durchsetzen konnte, da Saudi-Arabien, Irak, Israel und die USA dies zu verhindern wussten. Sein besonderes Augenmerk liegt auf Irans Anstrengungen beim Export der iranischen Revolution, die das Land unmittelbar in Konfrontation mit den sunnitisch geprägten Ländern, besonders Saudi-Arabien, brachte. Durch die Übersetzung und Analyse etlicher originalsprachlicher Quellen und der Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten wird der iranische Führungsanspruch untersucht.

Zu Beginn gibt der Autor einen Überblick über die aktuelle Islamismusforschung und den Aufbau seiner Studie. Bei seiner Erläuterung des Konzepts der islamischen Führungsrolle betont er, dass Ayatollah Khomeini die islamische Regierung als letzten Ausweg sah, eine allgemeine Verschwörung gegen die Muslime zu verhindern. Unter der Annahme, dass die iranische Revolution ein "weltweites Erwachen" ausgelöst habe, war Khomeini zuversichtlich, bald weitere regionale Triumphe verzeichnen zu können.

Die revolutionäre Phase unter Khomeini (1979-1989) wurde vom Ersten Golfkrieg geprägt, in dem die Islamische Republik einen Krieg gegen seine "blasphemischen Nachbarn" führte, um die Ziele der Revolution durchzusetzen. Zum Hauptrivalen Irans wurde Saudi-Arabien, das sich ebenfalls um die Position als islamische Führungsmacht bemühte. Neben dem Irak und Libanon sollten auch Jerusalem und alle anderen Staaten, die von "feindlichen Regimen" besetzt worden waren, befreit werden. Im Verlauf des Krieges wurde der Iran jedoch zunehmend regional und international isoliert.

Khomeini betonte, dass er nur die "Spiritualität" der Revolution exportieren wollte, ohne dabei Zwang auszuüben: Seiner Meinung nach hätte der Sieg über den Irak einen "Meilenstein" dargestellt, um alle Muslime politisch zu vereinigen. So wurde die Debatte über den "Revolutionsexport" und die "islamische Einheit" zunehmend lauter. Als Grundkonsens galt, dass die USA und Israel für die verstärkten Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten verantwortlich seien.

Die drei Kernkapitel beschäftigen sich mit den Verhältnissen unter Khomeinis Nachfolgern (1989-2013). Nach Khomeinis Tod 1989 befand sich die Islamische Republik in Isolation und einer "wirtschaftlichen Existenzkrise". Durch den neuen Rechtsgelehrten Ali Khamenei und den neuen Präsidenten Rafsanjani (1989-1997) wandelte sich der Führungsanspruch in Iran: Rafsanjani erklärte die neue Phase unter dem Rechtsgelehrten Khamenei zum "Jahrzehnt des Wiederaufbaus". 1990 brach der Zweite Golfkrieg aus: In der Kuwaitkrise zeigte sich die Distanz zwischen Iran und seinen arabischen Nachbarländern besonders deutlich.

Die Ära Khatamis (1997-2005) wurde von den jungen und gut gebildeten Mittelschichtlern getragen. Khatami war zwar keine "entschlossene Führungspersönlichkeit" wie Khomeini, allerdings konnte er sein Publikum durchaus erreichen. 2003 brach der Dritte Golfkrieg aus, der die USA wieder als "führende Weltmacht" etablieren sollte. Khatami wollte den Iran als Modell einer "religiösen Demokratie" durchsetzen und seine Regierung als "Fürsprecherin" der islamischen Zivilisation präsentieren.

Ein islamisch geprägtes Demokratiemodell sollte Religion und Freiheit miteinander verbinden und außerdem soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe kombinieren. Auch das beschädigte Ansehen des Iran sollte auf regionaler und internationaler Ebene verbessert werden: Dieser Reformkurs überlagerte die Diskussion über den Führungsanspruch im Vorderen Orient. Im Rahmen des "Dialogs der Kulturen" warb Khatami auch in Europa um Verständnis für die Verknüpfung von Religion und Freiheit: Die Islamische Republik sollte der globalisierten Welt als religiöses Demokratiemodell präsentiert werden. Andere muslimisch geprägte Gesellschaften konnten und wollten dieser "religiösen Demokratie" jedoch nicht folgen.

Die letzte Präsidentschafts-Ära, die in der Studie analysiert wird, ist die Regierungszeit Ahmadinejads. Er stammte aus dem Lager der "Prinzipientreuen" und zog vor allem religiös geprägte Geringverdiener aus urbanen und ländlichen Gebieten in seinen Bann, die Khomeini als "Kernzielgruppe der Revolution" bezeichnet hatte. Die von Khatami enttäuschte Bevölkerung erhoffte sich wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Auch Khamenei und Ahmadinejad waren der Ansicht, aus Khatamis "religiöser Demokratie" und dem "Dialog der Kulturen" geschwächt hervorgegangen zu sein. Sie forderten die Rückbesinnung auf die "Ideale der Revolution". Außerdem wurde der Ausbau der Führungsrolle Irans in wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und technologischer Hinsicht gefordert. Dem Westen wurde zur Last gelegt, den Fortschritt der iranischen Nation behindern und die Islamische Republik beseitigen zu wollen.

Die Führungselite im Iran hatte festgelegt, dass sie ein Anrecht habe, ihr Nuklearprogramm auszubauen und eine regionale Führungsrolle einzunehmen. Die Modellfunktion Irans sollte an Bedeutung gewinnen und das Land gegen Angriffe der USA und Israels "immunisiert" werden. Israel, der Westen und die regionalen Golfmonarchien verdächtigten den Iran jedoch, ein Programm zur nuklearen Bewaffnung zu verfolgen. Ayatollah Khamenei erklärte, dass der Iran nur ein friedliches Nuklearprogramm entwickeln würde, die "Waffe des Glaubens" reiche ihnen aus. 2009 bezeichnete Ahmadinejad den Iran auf Grund der nuklearen Errungenschaften als "anerkannte Regionalmacht". Nun sollte das Nuklearmonopol Israel beseitigt werden, da es einen "Unsicherheitsfaktor" für die gesamte Region darstellen würde.

Der Arabische Frühling wurde von Irans Staatsführung als Fortsetzung der Iranischen Revolution gesehen. Um die Zusammenarbeit in der Golfregion wieder zu stärken, wurde die Schaffung eines iranisch-arabischen "Verteidigungspaktes" vorgeschlagen. Allerdings kam das Golftreffen nie zustande: Khameneis Meinung nach hätten die USA es verhindert, um Iran und die Golfregion auch weiterhin auf Distanz voneinander zu halten: So blieb die erhoffte regionale Zusammenarbeit aus.

Der Autor kommt am Ende seiner Studie zu dem Ergebnis, dass die iranische Staatsführung ihre Ziele des "Revolutionsexports" und der "islamischen Einheit" verfehlt hat und die islamische Führungsrolle im Vorderen Orient nicht übernehmen konnte. Schon unter Khomeini sei die Befreiung der seiner Meinung nach unterdrückten Muslime und die Schaffung einer muslimischen Einheit nicht gelungen.

Der Wandel des Führungsanspruchs unter Khamenei lag darin, dass die Revolution nicht mehr aktiv exportiert werden, sondern ein Modell entworfen werden sollte, dass für die Anhängerschaft im Ausland ein Vorbild wäre. Doch weder dieses Modell, noch das in der Ära Rafsanjani entwickelte "religiöse Demokratiekonzept" oder das unter Ahmadinejad verfolgte Nuklearkonzept wurden in einem Land des Vorderen Orients als "beispielgebend nachgeahmt". Da Irans Konzepte dem schiitischen Expansionsstreben diente, folgten ihnen die überwiegend sunnitischen Muslime in der arabischen Welt nicht.

Die Führungsrolle im Vorderen Orient zu übernehmen galt vor allem dem Aufbau einer entwicklungsfähigen Islamischen Republik. Konzepte wie die "islamische Einheit", der "Dialog der Kulturen" und das "islamische Erwachen" waren darauf ausgerichtet, das iranische Modell attraktiver für die möglichen Rezipienten zu gestalten. Am 14. Juni 2013 wurde Hassan Rohani zum iranischen Präsidenten gewählt. Israel und die Mehrheit der arabischen Länder begegnen dem islamischen Führungsanspruch Irans weiterhin mit Skepsis.

Mit seiner Studie über Irans Führungsanspruch gibt Oliver Borszik einen detaillierten und fachspezifischen Überblick über die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche im Iran ab der Machtübernahme Ayatollah Khomeinis im Jahr 1979. Seine unzähligen übersetzten Originalquellen setzen die Ereignisse zu einem Gesamtbild zusammen und helfen dem Leser ein tieferes Verständnis der verschiedenen vorgestellten Persönlichkeiten und Ereignissen zu erlangen. Die Dissertation ist anregend geschrieben und vermittelt sowohl dem Kenner als auch dem Laien ein umfassendes Wissen über die Geschehnisse im Iran zwischen 1979 und 2013.

Rezension über:

Oliver Borszik: Irans Führungsanspruch (1979-2013). Mission, Anhängerschaft und islamistische Konzepte im Diskurs der Politik-Elite (= Islamkundliche Untersuchungen; Bd. 328), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2016, 243 S., ISBN 978-3-87997-450-4, EUR 48,00

Rezension von:
Esther Schirrmacher
Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Esther Schirrmacher: Rezension von: Oliver Borszik: Irans Führungsanspruch (1979-2013). Mission, Anhängerschaft und islamistische Konzepte im Diskurs der Politik-Elite, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/10/29536.html


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