sehepunkte 16 (2016), Nr. 10

Rezension: The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350-1750

Das Werk ist beeindruckend: 1512 Seiten in zwei Bänden: "Menschen bzw. Völker und Orte" sowie "Kulturen und Macht". Diese teilen sich, neben einer Einführung in sieben Abschnitte: "Fundamente", "Gesellschaften und Ökonomien", "Kirchen, Glauben und Gläubige", "Ideen und Kulturen", "Europa über Europa hinaus", "Regierung und Regieren" sowie "Internationale Rivalitäten". Die einzelnen Kategorien umfassen unterschiedlich viele Beiträge. Alle sind von ausgewiesenen Experten verfasst, die zu Beginn jeden Bandes mit Kurzbiografien vorgestellt werden. Am Ende befindet sich jeweils ein Namens- und Ortsindex sowie ein thematisches Register.

Der Grundeindruck beider Bände ist das Ende der Gewissheiten. Die Hajnal-Linie löst sich ebenso auf wie die Zweite Leibeigenschaft, Mode und auch das Individuum sind keine westlichen Erfindungen mehr. Die Musikgeschichte macht die Unterscheidung zwischen Elite- und Volkskultur schwierig. Früh wurden Lieder des Volks mit den Aufschreibesystemen der Elite festgehalten oder in ihre Musik eingebaut. Interessant ist, dass der seit dem 17. Jahrhundert in der Oper geführte Streit zwischen Gesang und Musik eine mittelalterliche Vorgeschichte hatte. Seit Aufkommen der Polyfonie gab es Befürchtungen, dass die klare Verständlichkeit der gesungenen religiösen Texte durch die Musik beeinträchtigt werden könnte. Dies zeigt Thomas Munck. Dieselbe Musik konnte als abstrakte Sprache von den Anhängern verschiedener Konfessionen im eigenen Sinne verstanden werden. Diese Uneindeutigkeit erklärt die Musikfeindlichkeit der Calvinisten und Puritaner. Weniger beeinträchtigt durch öffentliche Kontrolle und Zensur als Texte und bildende Kunst, bot die Musik mehr Raum für Individualität in einer Welt, die vielfach durch Intoleranz gekennzeichnet war. Theodor K. Rabbs glänzend geschriebene Geschichte der Kunst und Architektur bietet die Abfolge männlicher Genies und einer Frau, Artemesia Gentileschi. Fundmental ist Gerhard Dohren-Van Rossums Hinweis auf die horological revolution, die sich durch die ganze Frühe Neuzeit hinzog. Wenig bekannt - wahrscheinlich auch in Polen - ist, dass in Polen-Litauen bereits seit dem 14. Jahrhundert eine muslimische Gemeinschaft von Tataren existierte, die im 17. Jahrhundert sogar, im Gegenzug für militärische Dienste, die vollen Rechte des polnischen Adels erhielt.

John Robertson demonstriert, dass revolutionäre Politik die Antithese aufgeklärter Politik war, direkt, während Aufklärung indirekt wirken wollte. Die Französische Revolution war die Rache der Politik an der Aufklärung (II, 165). Während der napoleonischen Kriege blieb nur Deshima, der aufgeschüttete Handelsposten vor Nagasaki, vom niederländischen Kolonialbesitz übrig. Thomas M. Cohen und Emanuele Colombo zeigen, wie der Jesuitenorden durch Entgegenkommen gegen einheimische Kulturen zum ersten globalen religiösen Orden wurde. Andreas Gestrich vergegenwärtigt die soziale Ordnung.

Für deutsche Historiker ist der Begriff "Amerindians" für die Ureinwohner Amerikas sicherlich noch diskussionswürdig. Matthew P. Romaniello zeigt, wie der beginnende Massenkonsum neuer Produkte aus den Amerikas in Europa mit der inhumanen Ausbeutung von Menschen in anderen Weltteilen zusammenhing. Sklaverei war nur eine Form davon, indigene Bevölkerungen zahlten einen hohen Preis für die Verbesserung des Lebens in Europa und auch europäische Vertragsarbeiter in der neuen Welt lebten und starben oft nicht besser. Überhaupt liegt ein besonderer Wert des Handbooks darin, dass eine Vielzahl von Autoren die globale Dimension frühneuzeitlicher europäischer Geschichte aufzeigen.

Der Handel zwischen China und den europäischen Staaten wurde im 17. und 18. Jahrhundert durch die Ausbeutung der Silbervorkommen Amerikas durch die Europäer ermöglicht. Die Ausbeutung einer Weltregion machte es den Europäern möglich, die Güter einer anderen Region zu konsumieren (II, 339), argumentiert R. Bin Wong. Die Trennung zwischen Mars und Merkur erfolgte in der Seekriegsgeschichte erst ab 1650. Zuvor - so Louis Sicking - wurde der Seekrieg mit umgewidmeten Handelsschiffen geführt.

Ronald G. Asch und Robert Frost bieten eine faszinierende geografische und chronologische tour d'horizon über die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Monarchie Europas. Gábor Ágoston legt dar, dass das Osmanische Reich das am längsten bestehende multikonfessionelle und multiethnische dynastische Reich der europäischen Geschichte war.

Ulinka Rublack behandelt die verschiedenen Formen des Protestantismus und Nicholas Terpstra jene des Katholizismus. Auch Juden, Orthodoxe und Moslems sind Teil der europäischen Geschichte. Brendan Simms untersucht den Kampf um Übermacht und die Verschiebung der Gleichgewichtsvorstellungen innerhalb des frühneuzeitlichen Europas. Seine Bewertung, die Ergebnisse des Wiener Kongresses sollten die Briten drin, die Russen draußen und die Franzosen unten halten, ist diskussionswürdig. Die Europäisierung des italienischen Systems permanenter Botschafter zu Beginn der Frühen Neuzeit behandeln Paul M. Dover und Hamish Scott.

Einzelne Artikel sind uneinheitlich aufgebaut. Manche enden mit "Conclusions", manche mit "Some Final Thoughts", andere mit "Current Trends and Future Directions". Einige haben überhaupt keine Untergliederung. Manche der Beiträge sind als Forschungsüberblicke gestaltet, andere rein narrativ, einzelne sind theorielastig, manche verzichten auf theoretische Erörterungen. Nicht alle Beiträge halten sich an der Epochendefinition des Buchtitels, 1350-1750. Viele behandeln die Zeit von 1500 bis 1800, manche reichen bis 1815. Auch sind die Beiträge unterschiedlich meinungsstark. Markus Küpkers Beitrag "Manufacturing" vertritt einseitig neoliberale Positionen, wonach wirtschaftliche Tätigkeit besonders dort florierte, wo sich die Regierungen zurückgehalten haben. Erfolgreiche Beispiele für staatliche Aktivität wie in Preußen und anderen deutschen Territorien, wo z.B. Hugenotten erfolgreich angesiedelt und privilegiert wurden, werden nicht erwähnt. Es sei dahingestellt, ob wirklich theologische Motivationen zentral für Kolumbus Reisen waren (David J. Collins, S.J. I, 553). Nicht alle Beiträge halten, was ihre Titel versprechen. So bietet jener über "Land und Stadt im mediterranen Europa" fast ausschließlich Beispiele aus Italien. Bei dem Beitrag zu Handel und Kommunikation hätte man auch etwas über die Metzgerpost oder den transeuropäischen Viehhandel erwartet.

Hauptkritikpunkt ist jedoch, dass die Mehrheit der Beiträge überwiegend auf englischsprachiger Literatur beruht. Dies gilt besonders für die häufig als Abschluss angefügten Empfehlungen für weiterführende Lektüre. Dies mag auf einer Vorgabe des Verlages beruhen. Es ist jedoch nicht überzeugend, dass portugiesische oder spanische Historiker nichts Lesenswertes zur Geschichte der frühneuzeitlichen Expansion ihrer Länder geschrieben haben. Gleiches gilt für viele andere Themen. Nachschlagewerke wie die "Enzyklopädie der Neuzeit" erreichen zwar nicht den Umfang der Beiträge des "Oxford Handbook of Early Modern European History", sie sind jedoch mit der abschließenden Auflistung der wichtigsten Quellen und dann auch der wichtigsten internationalen Literatur zu einzelnen Themen überzeugender.

Rezension über:

Hamish Scott (ed.): The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350-1750. Volume I: Peoples and Place, Oxford: Oxford University Press 2015, XXVI + 777 S., ISBN 978-0-19-959725-3, GBP 95,00

Hamish Scott (ed.): The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350-1750. Volume II: Cultures and Power, Oxford: Oxford University Press 2015, XXIII + 735 S., ISBN 978-0-19-959726-0, GBP 95,00

Rezension von:
Wolfgang Burgdorf
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Burgdorf: The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350-1750 (Rezension), in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/10/27582.html


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