sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8

Bernt Ture von zur Mühlen: Gustav Freytag

"Meistgelesener Schriftsteller des Deutschen Kaiserreichs", "Adelsverächter", fälschlich als Antisemit bezeichnet - diese Attribute werden Gustav Freytag von seinem Biografen zugesprochen. Bernt Ture von zur Mühlen, Bibliothekswissenschaftler und Gymnasiallehrer, ist bereits im Jahr 2010 mit einer Lebensbeschreibung August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben hervorgetreten. Aus den veröffentlichten Werken und den Briefwechseln Freytags sowie dessen eigener Darstellung seines Lebens legt er nun eine Biografie des Schülers Hoffmanns von Fallersleben vor. Die Begründungen dafür liefert Ture von zur Mühlen im Vorwort.

Freytag, gefeierter Schriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sei heute weitgehend vergessen. Sein Wertekanon der Vaterlandsliebe, Pflichterfüllung, Arbeit, Unterordnung, Selbstdisziplin und Sparsamkeit entspreche nicht mehr den Erwartungen der Gegenwart. Der Autor beschreibt Freytags Leben denn auch über weite Strecken unter diesen Prämissen. Freytag war ein unermüdlicher Arbeiter, der in kurzer Zeit seine Werke verfasste, zudem über Jahrzehnte als Mitherausgeber der "Grenzboten" unter dem Druck eines termingebundenen Zeitschriftenredakteurs stand und sich dabei selbst durch private Schicksalsschläge nicht aus der protestantischen Disziplin bringen ließ.

Ein zweites durchgehendes Motiv in Ture von zur Mühlens Biografie ist der Vorwurf an Freytag, er sei Antisemit gewesen. Dieser Vorwurf stützt sich auf die Darstellung des Veitzel Itzig in dem zu Lebzeiten Freytags in 43 Auflagen erschienenen Erfolgsroman "Soll und Haben". Fünf Argumente liefert Ture von zur Mühlen, um diesen Vorwurf zu entkräften: Freytag habe antisemitische Klischees seiner Zeit bedient. Er habe einen Aufsatz gegen Richard Wagners "Die Juden in der deutschen Musik" geschrieben. Seine dritte Ehe habe er mit einer Jüdin geschlossen. Er sei dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus beigetreten. Und er habe eine Flugschrift "Ueber den Antisemitismus" veröffentlicht, in der er diese Geisteshaltung verurteilte. Die Ressentiments gegen Freytag erklärt sein Biograf aus heutigen Betroffenheiten. Ob damit die Breitenwirkung einer typisierenden Darstellung antisemitischer Stereotype genug eingeordnet ist, bedarf weiterer Diskussionen, der sich die Wissenschaft für das gesamte 19. und 20. Jahrhundert stellen muss.

Schwerwiegender schätzt Ture von zur Mühlen die antipolnischen Ressentiments des Schlesiers Gustav Freytag ein. Sein Urteil über die Polen "als einem kulturlosen, zu wirtschaftlichen Leistungen unfähigen und zur Staatsführung ungeeigneten Volkes" (9) haben mit zu negativen Stereotypen beigetragen, die nicht nur in die Germanisierung der polnischen preußischen Provinzen, sondern bis in die Unterdrückung während des Zweiten Weltkriegs weiter wirkten.

Freytag fühlte sich als protestantischer Preuße. Seine patriotische Gesinnung zeigte sich in vielen seiner Veröffentlichungen sowohl im Rückgriff auf germanische und mittelalterliche Motive, aus denen sich seine mehrbändige Kulturgeschichte "Bilder aus der deutschen Vergangenheit" speiste, als auch in der Parteinahme für die kleindeutsche Lösung der deutschen Einigung. "Sein Lebensziel war der deutsche Nationalstaat, ein vereinigtes Deutschland unter preußischer Führung." (11) Doch seine politische Karriere scheiterte bereits nach seiner ersten Wortmeldung im Norddeutschen Reichstag. Sein Engagement fand noch einmal einen Höhepunkt in seiner Tätigkeit als Kriegsberichterstatter im deutsch-französischen Krieg. Eine weitere Ambivalenz stellt Ture von zur Mühlen in Freytags Verhältnis zum Adel fest. Einerseits legte er großen Wert darauf, als liberaler Bürger zu leben und als solcher zu gelten. Seine Verachtung für den Adel brachte er in vielen Briefen zum Ausdruck. Andererseits begab er sich in den Dienst von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband und der ihn zum Hofrat ernannte. Der Versuch, über den preußischen Kronprinzen Einfluss auf die Politik zu nehmen, gelang ihm literarisch eher denn realpolitisch.

Unter diesen Prämissen schildert Ture von zur Mühlen den chronologischen Ablauf von Freytags Leben. Es gelingt ihm eine gute Verschränkung von darstellender Biografie und Werkgeschichte. Nach einer kurzen Universitätslaufbahn versuchte sich Freytag zunächst als Lyriker und Dramatiker. Nach 1848 kam die Herausgeberschaft der "Grenzboten" hinzu, für die er in über 20 Jahren an die 800 Artikel verfasste. Von den Tantiemen für seine Artikel und Bücher, vor allem "Soll und Haben" konnte Freytag gut leben und ein herrschaftliches Haus in Siebleben bei Gotha sowie Wohnungen in Leipzig und Dresden unterhalten. In seinem Privatleben zeigt Ture von zur Mühlen Spannungen auf, die von der rührenden Sorge um seine psychisch kranke Frau über die langjährige geheime Beziehung zu seiner Haushälterin bis zur Affäre mit seiner dritten, bereits verheirateten Frau führen. Von seinen drei Ehen war die dritte die glücklichste. Ein Familienmensch scheint er jedoch nie geworden zu sein.

Ture von zur Mühlen hat sich auf publiziertes Material gestützt. Aus dem Vergleich von Autobiografie, Briefwechseln und Gesammelten Werken kann er das Leben Freytags rekonstruieren, das von diesem selbst an manchen Stellen gefärbt wurde. Durch die sparsam gesetzten Fußnoten ist ein gut lesbares Bändchen entstanden, das in die Mentalitäts- und Kulturgeschichte des liberalen Bürgertums des 19. Jahrhunderts einführt.

Rezension über:

Bernt Ture von zur Mühlen: Gustav Freytag. Biographie, Göttingen: Wallstein 2016, 272 S., ISBN 978-3-8353-1890-8, EUR 24,90

Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Bernt Ture von zur Mühlen: Gustav Freytag. Biographie, Göttingen: Wallstein 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8 [15.07.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/07/28955.html


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