sehepunkte 16 (2016), Nr. 6

Lisa Sanner: "Als wäre das Ende der Welt da"

Die Erinnerungskultur über Katastrophen ist - bedenkt man deren Folgen - eher schwach ausgebildet. Am liebsten würde man "den Mantel der Vergangenheit [über diese Geschehnisse, C.T.] ausbreiten." (427) Daher war auch die historische Forschung zu diesem Themengebiet bis vor wenigen Jahren eher rudimentär ausgeprägt und allein der Soziologie und Anthropologie überlassen. Erst seit Kurzem hat die Geschichtswissenschaft Katastrophen und deren Bewältigung als Thematik für sich entdeckt. Vornehmlich wurden jedoch Naturkatastrophen untersucht. Das hier vorgestellte Buch von Lisa Sanner setzt sich hingegen mit zwei industriellen Desastern auseinander und baut damit eine weitere Facette der historischen Katastrophenforschung aus. Die Autorin knüpft mit ihrer Münchner Dissertation an die Arbeit des zwischen 2009 und 2012 aktiven Netzwerkes "Industrielle Krisenkommunikation im 20. Jahrhundert" der Universitäten Konstanz und Heidelberg an, ist jedoch als Einzelstudie entstanden. Das Netzwerk hatte sich unter anderem mit der medialen Berichterstattung rund um die beiden Explosionen in Oppau und Ludwigshafen beschäftigt. Im Fokus dieser Arbeit stehen dagegen die materielle und immaterielle Bewältigung sowie die politische Instrumentalisierung der oben erwähnten Katastrophen mittels der Medien. Die Quellengrundlage hierfür bilden vor allem Tageszeitungen als auch Illustrierte aus Deutschland, Frankreich und dem englischsprachigen Raum.

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptkapitel. Jedes dieser Kapitel, in denen jeweils die gleichen Fragestellungen behandelt werden, arbeitet auf verschiedensten Betrachtungsebenen einen der Explosionsunfälle von 1921 in Oppau und 1948 in Ludwigshafen auf. Da sich beide Unglücke drei Jahre nach den Weltkriegen ereignet haben, bieten sie ähnliche Kontexte und laden ein, einen historischen Vergleich anzustellen. Beide Katastrophen könne man, so Sanner, als "Extremereignisse in Extremsituationen" (25) begreifen.

Die Autorin bettet die Ereignisse zunächst in die historischen Gegebenheiten ein, wofür sie vier Ebenen heranzieht. Dies ist zum einen die nationale Situation, über die sie dann auf einer regionalen Ebene auf die Umstände in der Pfalz zu sprechen kommt, um dann drittens das damalige Arbeitermilieu zu beschreiben. Die vierte Ebene stellt das Unternehmen BASF nach den Weltkriegen dar. Im Jahr 1921 litt die Weimarer Republik unter als erdrückend wahrgenommenen Reparationslasten und der Kriegsschuld, welche den "Nährboden zahlreicher Konflikt- und Spannungskonstellationen" (416) bot. In diesem Zusammenhang stießen Arbeiterkämpfe mit der Forderung nach besseren Löhnen auf "repressiv-paternalistische [...] Praktiken" (416) der BASF. Dagegen war die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg vom Ost-West-Konflikt und von den Folgen des Krieges dominiert. Die Menschen in Deutschland litten unter der Hungersnot, weshalb sich die Arbeiter der BASF aufgrund ihrer Existenznöte gegenüber der Firma loyal verhielten.

Nach der historischen Einordung untersucht die Verfasserin beide Explosionen zunächst unter dem Gesichtspunkt der materiellen Bewältigung. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund der Betrachtung: Zum einen wie groß die Funktions- und Handlungsspielräume der lokalen und überregionalen Behörden, Institutionen und Verbände waren und, zweitens, wie sowohl die kurzfristigen als auch langfristigen Hilfeleistungen koordiniert wurden. Interessant ist hierbei, dass 1921 die schnell anlaufenden Hilfsmaßnahmen den Groll zwischen Besatzern und der deutschen Bevölkerung zumindest zeitweise überwanden, da sich die Besatzungsmächte tatkräftig an den Bemühungen beteiligten. Was die tatsächliche materielle Hilfe angeht, stellten für das Unglück in Oppau sowohl die Geldentwertung als auch die problematischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Gemeinde, Hilfswerk und Unternehmen eine große Bürde dar. Im Vergleich hierzu war die Situation 1948 wiederum entspannter. Allerdings konnte beide Male die Haftungsfrage nicht geklärt werden.

Die Frage nach der immateriellen Bewältigung nimmt den größten Raum in der Arbeit ein. Neben der Ursachenforschung widmet sich Sanner der Darstellung der beiden Katastrophen als Medienereignis und ihrer politischen Instrumentalisierung. Hierzu zieht die Autorin zahlreiche Artikel aus verschiedensten Tageszeitungen und Illustrierten heran, die einen Querschnitt der damaligen Medienlandschaft darstellen. Berücksichtigt werden deutsch-, englisch- und französischsprachige Journale. Ziel der Berichterstattung war es zunächst einmal, Spendengelder zu mobilisieren sowie das Erlebte aufzuarbeiten. Dabei kamen 1921 Spekulationen der Besatzer auf, dass die Geschehnisse auf eine geheime Giftgasherstellung der BASF zurückzuführen seien, in denen sich "ein militaristisches Feindbild von Deutschland [...] manifestierte" (421). Während der Weimarer Zeit versuchten die unterschiedlichen politischen Lager, das Katastrophengeschehen für ihre politischen Zielrichtungen auszunutzen. Links gerichtete Zeitungen nutzen die verheerende Explosion für ihre Kritik am Kapitalismus, wohingegen die konservativen Blätter die wirtschaftlichen Auswirkungen betonten. Das Unglück in Ludwigshafen 1948 wurde hingegen vornehmlich von der Ostzone im Ost-West-Konflikt für eine gezielte Anti-West-Propaganda instrumentalisiert. Die Westpresse betonte indes den Einsatz der alliierten Truppen und deren Hilfeleistungen. Über die politische Dimension hinaus geht die Verfasserin detailliert auf die semantische Darstellung der Ereignisse ein; hier dominierte die Fassungslosigkeit über das Geschehene. Die Bilder spiegeln die zum Teil bewusste Inszenierung der Opfer, Hilfsmaßnahmen, Zerstörung wie auch der Trauerfeier wider.

Der letzte Teil der immateriellen Bewältigung nimmt die Deutungsansätze der Unfälle in den Blick. Intention war dabei stets, den großen Unglücken einen Sinn zu geben. 1921 wurden die Geschehnisse von Glaubensvertretern als Mahnung zur Demut angesehen. Ein evangelischer Pfarrer sprach sogar von der Strafe Gottes. Des Weiteren mystifizierte man die Explosion und führte den Natur-Mensch-Dualismus als Ursache an. Nach der Ludwigshafener Katastrophe 1948 nahm die Religion dagegen eine trostspendende Rolle ein. Die BASF und die Kesselwagenexplosion wurden stark mit dem Schicksal der Stadt Ludwigshafen verbunden. Die Medienberichterstattung, welche 1921 der Gesinnungsjournalismus und 1948 die Lizensierung der Alliierten prägte, war allerdings stark politisch gefärbt. Von daher stellt der vierte und letzte Abschnitt der jeweiligen Kapitel, der sich mit der politischen Instrumentalisierung der beiden Katastrophen auseinandersetzt, eine Zusammenfassung und Akzentuierung der vorherigen Passage dar.

Insgesamt ist Lisa Sanners Studie ein sehr detailliertes und auf umfangreichen Quellen basierendes Werk. Trotz einiger Wiederholungen ist das Buch eine lohnende Lektüre, denn die Autorin zeigt auf anschauliche Weise, wie wichtig der Blick auf den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext einer Katastrophe ist, um einschätzen zu können, wie die Akteure die Bewältigung solcher Ereignisse für ihre eigenen politischen Ziele einsetzen. Daher stellt das Buch einen wichtigen Beitrag für die noch in ihren Kinderschuhen steckende historische Forschung bezüglich industrieller Katastrophen dar.

Rezension über:

Lisa Sanner: "Als wäre das Ende der Welt da". Die Explosionskatastrophen in der BASF 1921 und 1948 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen am Rhein; Bd. 42), Ludwigshafen: Llux Verlag 2015, 486 S., 126 s/w-Abb., ISBN 978-3-924667-47-4, EUR 25,00

Rezension von:
Carla Thiel
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Carla Thiel: Rezension von: Lisa Sanner: "Als wäre das Ende der Welt da". Die Explosionskatastrophen in der BASF 1921 und 1948, Ludwigshafen: Llux Verlag 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/06/28254.html


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