sehepunkte 16 (2016), Nr. 5

Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century

In Analogie zu Walter Benjamins Diktum, Paris sei die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gewesen, stellt Derek Sayer in seinem Buch Prag in den Mittelpunkt seiner Kulturgeschichte des darauffolgenden Zeitalters. Es ist eine durchaus gelungene Parallele, jedoch kommt es darauf an, was man unter dem 20. Jahrhundert versteht. Es erscheint hier in kondensierter Form und spiegelt vorwiegend die goldene Ära der tschechischen Moderne der Zwischenkriegszeit wider. Den Schwerpunkt der Studie bilden Literatur, Architektur und die bildenden Künste. Prag an sich ist hingegen kaum ein Thema: Es handelt sich viel stärker um eine Kunst- und Kulturgeschichte in der Stadt als um eine Geschichte der Stadt. Urban-, Sozial- oder Alltagsgeschichte werden nicht behandelt.

Die Darstellung zeichnet sich durch eine große Faktendichte und ein rasantes Erzähltempo aus. Das Buch ist jedoch eher für Prag-Kenner und -Liebhaber geschrieben, die eine neue Perspektive auf das bereits Gewusste oder Geahnte suchen und hier eine glänzende Bestätigung finden. Die Menge an Information ist so groß, dass die Zusammenhänge und Bedeutungen stellenweise nur wenigen vertraut sein dürften. Für diejenigen Leser, die sich einen Überblick über die tschechische und zentraleuropäische Kulturgeschichte verschaffen möchten, ist das Buch daher nicht bestimmt.

Das Buch ist in thematische Kapitel gegliedert, die sich mit prägenden kulturhistorischen Events und künstlerischen Impulsen befassen. Eröffnet wird die Erzählung auf sehr gelungene Weise mit André Bretons und Paul Éluards Besuch in Prag 1935, wobei die tschechoslowakische Hauptstadt als Schnittstelle der kulturellen Innovationen und Kreativität Europas dargestellt wird. Dieses Motiv zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch. In den weiteren Kapiteln verzweigt sich die Darstellung einer Vielfalt von Themen in einem dichten Geflecht von Erzählsträngen. Dabei werden jedoch die Schicksale der Prager surrealistischen Gruppe in ihrer internationalen Verflochtenheit durchgehend im Blick behalten. Sayers radikal transnationale Perspektive, in der man genauso viel über Apollinaire und Max Ernst wie über Jaroslav Seifert und Jan Zrzavý erfährt, tut gegenüber der oft zu stark beobachtenden Selbstzentriertheit tschechischer kulturhistorischer Studien gut. Einen seiner Schwerpunkte legt der Verfasser auf die Verbindung zwischen Prag und Paris, wie sie sich in Toyens und Jindřich Štýrskýs Pariser Tätigkeit widerspiegelt (176), wobei auch Unterschiede und Konflikte zwischen den beiden Bewegungen herausgearbeitet werden (235). Auch der Streit zwischen Karel Teige und Le Corbusier zeigt die Verzwicktheit der transnationalen Kulturgestaltung und des Ideentransfers.

Trotz des entschieden transfergeschichtlichen Blicks vergisst Sayer aber nicht die Besonderheiten des tschechischen Beitrags zur Moderne darzustellen, einschließlich seiner Paradoxien. Hierzu gehört das Dilemma der tschechischen Modernisten zwischen der pronationalen und antinationalen Einstellung, wie sie sich zum Beispiel in der Kontroverse um den Rondokubismus (národní sloh) sowie im Dilemma zwischen der volkstümlich-ruralen Tradition und der urban-fortschrittlichen Moderne niederschlägt. Der Verfasser behandelt die spezifisch tschechische Symbiose der beiden Momente bei dem Maler Václav Špála (184), der den Kubismus mit dem Ruralismus in seinen Illustrationen zu Božena Němcovás Babička zu vereinigen suchte, aber auch bei Janáčeks Musik oder bei den Gebrüdern Čapek. Er erinnert an diese Verknüpfung von Weltsicht und Begrenztheit auch anhand von Redewendungen wie malé, ale naše (klein, aber unser) oder malý český člověk (kleiner tschechischer Mensch) (188), die oft durch die Akzentuierung von femininen Gestalten wie maminka oder babička unterstrichen werden. Auch in dieser spezifischen Auffassung von Femininität, so Sayer, verbinde sich Tradition mit Moderne, das Fortschrittliche mit dem Volkstümlichen und Einfachen (191). Einen anderen Aspekt des tschechischen Sonderwegs bildete die Radikalität in Fragen von Moral und Sexualität, wie sie sich in den liberalen Ansichten zu Homosexualität und Geschlechtergleichheit (erste erotische Filme in Prag, die Zeitschrift Erotická revue, Toyens Illustrationen oder Vítězslav Nezvals Sexualni nocturno) niederschlug und mit Bretons und Eluards Konservatismus in sexuellen Fragen kontrastierte. Zugleich macht Sayer aber auch auf die Möglichkeit einer konservativen Moderne aufmerksam, wie sie durch die Aktivitäten der Firma Baťa in Zlín realisiert wurde.

Diese Hervorhebung der Besonderheit der tschechischen Moderne schlägt dann um in ein Klagen über deren Niedergang seit den späten 1930er-Jahren ("On the Edge of an Abyss"), wie auch über das anschließende Vergessen und Verschwinden der tschechischen Moderne aus dem allgemeinen kulturellen Bewusstsein. Sayer macht dieses Verschwinden am Kontrast zwischen den zwei wichtigsten Surrealismus-Ausstellungen deutlich. Während die Pariser Ausstellung von 1939 unter einer starken tschechoslowakischen Mitwirkung gestaltet wurde, hat man in der 1968er-Ausstellung des Museum of Modern Art die tschechische Kunst ignoriert (319). Hier verleiht Sayer seiner Erzählung eine durchaus tragische und nostalgische Wendung, als ob mit dem Münchener Abkommen und dem Krieg alles vorbei gewesen und danach vergessen worden sei. So endet Prags Rolle als Hauptstadt des 20. Jahrhunderts bereits Ende der 1930er-Jahre mit der Auflösung der Surrealismus-Gruppe und der Zerschlagung der Tschechoslowakei. Skeptische Töne schließen das Buch ab - mit Max Weber und Ludwig Wittgenstein, die beide an der Möglichkeit einer rationellen Erfassung der Welt zweifelten; und selbstverständlich auch mit Benjamins Engel der Geschichte.

Bedeutet dies aber auch das Ende des Jahrhunderts? Indem Sayer eine allzu starke Betonung auf diesen Kontinuitätsbruch legt, retuschiert er praktisch die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem Geschichtsbild heraus beziehungsweise gibt sie in einer stark reduzierten Form wieder. Wenn er sich zur Nachkriegsentwicklung vortastet, geschieht dies meistens mittels der Retrospektive auf die Vorkriegszeit. Dies zeigt sich in Milan Kunderas Erinnerung an Gespräche mit Louis Aragon oder auch dann, wenn Bohumil Hrabals Erzählungen aus den 1960er-Jahren als Berichtserstattung über die vergangene Welt der Zwischenkriegszeit dienen. So wirken die Teile über die Kriegszeit und den Stalinismus eher als Nachwort denn als eine selbstständige, vollwertige Geschichte der Moderne. Die Ereignisse von 1968 und 1989 als Meilensteine der Moderne werden nur angeschnitten. Das ist schade, denn die Entwicklungen unter dem Realsozialismus und Postsozialismus böten eine Chance, die Paradoxien der europäischen Moderne im 20. Jahrhundert, ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten, ihre Zwangslage zwischen Ideologie und Kulturschaffen weiter zu erörtern. Diese Weiterführung könnte das Argument von Prag als Hauptstadt des 20. Jahrhunderts zuspitzen, zum Beispiel unter der Fragestellung, warum gerade die tschechische Überlebenskunst die Quintessenz der europäischen Zeitgeschichte darstellen sollte.

Ein Schönheitsfehler dieses packenden und zum weiteren Nachdenken einladenden Buchs sind die vielen Schreibfehler im Tschechischen; ironischerweise ist auch das Glossar, das die tschechischen Ausdrücke und Aussprache erklärt, nicht frei von Fehlern. Eine tschechische und deutsche Ausgabe wären mehr als wünschenswert.

Rezension über:

Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century. A Surrealist History, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2013, XXI + 595 S., ISBN 978-0-691-04380-7, USD 27,95

Rezension von:
Pavel Kolář
Department of History and Civilization, European University Institute, Florenz
Empfohlene Zitierweise:
Pavel Kolář: Rezension von: Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century. A Surrealist History, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/05/28763.html


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