sehepunkte 16 (2016), Nr. 5

Winfried Meyer: Klatt

Für den pensionierten Chef der Spionageabwehrabteilung der CIA, James Angleton, war es "eines der letzten großen Rätsel": die sogenannten "Max"-Meldungen, die ein V-Mann mit dem Decknamen "Klatt" ab Herbst 1941 aus Sofia und ab Herbst 1943 aus Budapest an die Wiener Außenstelle des Amtes Ausland/Abwehr [1] funkte. Diese Informationen wurden für "kriegswichtig" erklärt, und die deutschen Befehlshaber an der Ostfront trafen keine wichtigen operativen Entscheidungen, ohne diese "Max"-Meldungen vorher zu konsultieren. (9) Dieses im deutschen Sprachraum bislang wenig bekannte Kapitel der nachrichtendienstlichen Geschichte des II. Weltkriegs hat Winfried Meyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, in dem hier zu besprechenden Band akribisch und umfassend aufgearbeitet.

Hinter dem Decknamen "Klatt" verbarg sich ein höchst ungewöhnlicher "Meisteragent": der Wiener Immobilienmakler Richard Kauder (1900-1960), der nach den NS-Gesetzen als "Volljude" galt. 1940 befand er sich bereits in Gestapo-Haft, bis sich ein Bekannter seines Vaters, der Leiter der Gruppe I der Abwehrstelle Wien, erfolgreich für seine Freilassung einsetzte. (87ff.) Kauder trat in dessen Dienste und baute 1940 in Sofia den Luftmeldekopf Südost auf. Diese Einrichtung sandte bald darauf die "Max"-Meldungen aus und berichtete darin über sowjetische Truppenbewegungen, Belegung von Flugplätzen, Schiffsbewegungen, strategische Beschlüsse des sowjetischen Generalstabs und vermeintliche Frontbesuche Stalins. (174-185) Für Kauder stellte diese Tätigkeit eine prekäre Lebensversicherung dar, da die Offiziere der Abwehrstelle Wien ihn und seine Mutter nur so weiter schützen konnten. (320ff.)

Die "Max"-Meldungen oder die auf ihnen basierenden Feindanalysen der Abteilung Fremde Heere Ost wurden schon bald "ohne kritische Nachfragen als zuverlässig betrachtet". (250) Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost war Reinhard Gehlen, der spätere Gründer des Bundesnachrichtendiensts (BND). Weil zunehmend Erkundungsmittel wie Luftaufklärung und Funkhorchdienst zur Überprüfung der "Max"-Meldungen ausfielen, wuchs die Abhängigkeit von diesem Material. (271) Obwohl Gehlen in seinen 1971 erschienenen Memoiren betont, dass sowjetische Angriffsoperationen nicht unerwartet gekommen seien, wurde die Lage Ende 1942 auf fatale Weise falsch eingeschätzt. Selbst in "Max"-Meldungen erwähnte Verstärkungen und Umgruppierungen im Großraum Stalingrad waren als defensive Maßnahmen oder örtlich begrenzte Gegenangriffe eingeschätzt worden. Wie Meyer betont, trugen die Abhängigkeit Gehlens und sein Glaube an die Zuverlässigkeit der "Max"-Meldungen dazu bei, dass man die Bedeutung der Gegenoffensive der Roten Armee "vollkommen verkannte". (257)

Neben den Meldungen aus dem sowjetischen Hinterland lieferte der Luftmeldekopf Südost ab Dezember 1941 auch Berichte aus dem britischen Einflussgebiet im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und in Nordafrika. Diese wurden mit den Chiffren "Moritz" bzw. "Ibis" gekennzeichnet. (174f.) Die enthaltenen Informationen wurden allerdings von Ausland/Abwehr im Unterschied zu den "Max"-Meldungen als "unzuverlässig, wenn nicht sogar vollkommen wertlos" oder gar als "von den britischen und amerikanischen Geheimdiensten eingeschleustes Spielmaterial" eingeschätzt. (216f.)

Der mithorchende britische Nachrichtendienst war bei der Auswertung 1942/43 überhaupt zur Auffassung gekommen, dass es sich bei "Max" um einen sowjetischen Doppelagenten handle, der die deutsche Seite irreführte. (525) Doch schon bald schien mit der "wachsenden Genauigkeit und Bedeutung" der "Max"-Meldungen eine ernste Gefahr für die Operationen der verbündeten Sowjetunion gegeben. (528) Im Rückblick wurde festgehalten, die Berichte des Meldekopfs seien bis zum Kriegsende ein "geheimnisvolles Rätsel" geblieben. (549) Danach ging man dem Ursprung der "Max"-Meldungen auf den Grund: Wichtigste Quelle war der russische Emigrant Longin Ira, den Kauder während seiner Haftzeit Anfang der 1940er Jahre kennengelernt hatte. In Vernehmungen durch das amerikanische Counterintelligence Corps (CIC) [2] räumte Ira ein, dass die "Moritz"-Meldungen tatsächlich "reine Fälschungen" gewesen seien. Dagegen seien die "Max"-Meldungen "zutreffende Berichte" gewesen, die er über Funk und Kuriere direkt aus Russland erhalten habe. (869f.) Eine weitere Schlüsselfigur war der antikommunistische Ex-General Anton Turkul - der noch 1956, ein Jahr vor seinem Tod, als "führende Persönlichkeit unter den russischen Emigranten in Westeuropa" galt. Seine Überwachung durch das CIC ergab "keinerlei Hinweise" darauf, dass Turkul ein Doppelagent gewesen wäre. (1001)

Kauder wiederum wurde selbst vom CIC rekrutiert: Am 23. Juni 1945 ordnete Major Edward Barry die Entlassung aus dem Landesgerichtsgefängnis Salzburg an. Einerseits wollte man die "umfassende Kenntnis" des neuen Agenten "Saber" nutzen, um ehemalige Informanten des deutschen Geheimdiensts auf dem Balkan und in Österreich zu identifizieren. Andererseits sollte er bei der Infiltration östlicher Geheimdienste und anderer subversiver Organisationen sowie bei der Aufdeckung japanischer Agenten in Europa behilflich sein. (802ff.) Kauder konnte aber an seine frühere Glanzzeit nicht mehr anschließen und wurde Ende 1948 aus den Diensten des CIC entlassen. (1057) Die Frage, ob Kauder-Klatt tatsächlich den sowjetischen Generalstab penetriert oder den Nachrichtendienst der Wehrmacht getäuscht hatte, ließ sich jedenfalls nicht mit Sicherheit klären. CIC-Offizier Thomas Lamb, der dem Fall nachgegangen war, resignierte: "Die Wahrheit über Klatt ist tatsächlich kaum feststellbar". (1055)

Das beste Indiz dafür, dass Kauder kein Doppelagent war, ist die Tatsache, dass der sowjetische Geheimdienst mehrmals versuchte, seiner habhaft zu werden. Ein Entführungsversuch in St. Gilgen im Sommer 1947 wurde noch drei Jahre später vom CIC als "eine der bis heute gewagtesten und kühnsten Operationen" der Sowjets in Österreich gewertet. (979) Im Jahr davor waren vier Männer, von denen einer die Mütze eines US-Militärpolizisten trug, in Kauders Salzburger Wohnung eingedrungen, wo sie aber bereits von US-Geheimdienstoffizieren erwartet wurden. Und schließlich setzte der NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) sogar eine Bande von Zigarettenschmugglern ("Benno-Blum-Gang") auf Kauder an - bis diese Anfang 1950 vom CIC in einer groß angelegten Operation zerschlagen wurde. (1048-1051) Danach verlor der sowjetische Geheimdienst das Interesse an Kauder, der selbst zunehmend in existenzielle Schwierigkeiten geriet. (1095) Der ehemalige "Großagent" verstarb schließlich am 15. Juli 1960 in Salzburg - hoch verschuldet und entmündigt. (1120f.)

Vor allem wegen des nach wie vor restriktiven Quellenzugangs in Russland kann auch Meyer keinen eindeutigen Befund abgeben - dafür entwirft er über die Ausnahme-Biografie von Kauder hinaus ein breites und eindrückliches Panorama nachrichtendienstlicher Vorgänge im II. Weltkrieg und im frühen Kalten Krieg. In Abgrenzung zu "Polierarbeiten am Mythos von NKWD und KGB" im Zusammenhang mit den "Max"-Meldungen [3] hält Meyer am Ende seiner gut lesbaren Studie generell fest, dass die Befunde geschichtswissenschaftlicher Analyse "selbstverständlich nicht 'die letzte' oder die 'eigentliche Wahrheit'" darstellen, "aber doch die bis zum Beweis des Gegenteils plausibelste Version der Vorgänge". (1232)


Anmerkungen:

[1] 1938 wurde der deutsche militärische Geheimdienst zur Amtsgruppe Auslandsnachrichten und Abwehr des neu geschaffenen Oberkommandos der Wehrmacht ernannt. Kurz nach Kriegsbeginn 1939 erfolgte die Erhebung der Amtsgruppe zum Amt Ausland/Abwehr, welches direkt dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Wilhelm Keitel, unterstellt war.

[2] Das Counterintelligence Corps (CIC) war im II. Weltkrieg und im frühen Kalten Krieg der Nachrichtendienst der US-Armee und zuständig für die Spionageabwehr.

[3] In Darstellungen russischer Autoren werden die "Max"-Meldungen seit Anfang der 1990er Jahre als wichtiger Teil einer großangelegten und erfolgreichen Desinformations-Kampagne interpretiert.

Rezension über:

Winfried Meyer: Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin: Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg, Berlin: Metropol 2015, 1287 S., ISBN 978-3-86331-201-5, EUR 49,90

Rezension von:
Thomas Riegler
Wien
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Riegler: Rezension von: Winfried Meyer: Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin: Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg, Berlin: Metropol 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/05/27788.html


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