sehepunkte 15 (2015), Nr. 10

Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne

Mit seiner Studie Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR hat Elmar Kossel 2013 die publizierte Fassung seiner 2008 an der FU Berlin abgeschlossenen Dissertation vorgelegt. Sein Buch reiht sich damit ein in Untersuchungen zu Architekten, die den Hauptteil ihres Werkes in der DDR schufen und für die in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse zu beobachten ist, wie z.B. Ulrich Müther, Franz Ehrlich oder Richard Paulick.

Im Gegensatz zu Forschungen wie beispielsweise der Arbeit Gabriele Wiesemanns zu Hanns Hopp will Kossel seine Arbeit jedoch bewusst nicht als Biografie oder Werkmonografie (13) verstanden wissen. [1] Seinen roten Faden bildet der Begriff der "Moderne", dem er anhand der Schaffensphasen Henselmanns nachspürt, wobei Kossels Untersuchungsschwerpunkt auf der DDR-Zeit liegt.

Allerdings begann Henselmann seine Karriere nicht erst in der DDR, sondern bereits Ende der 1920er-Jahre in Berlin. In einer ersten, in der DDR entstandenen Würdigung Henselmanns wurde diese Zeit bis 1945 stillschweigend ausgeklammert. [2] Seine 1981 veröffentlichte Autobiografie dagegen, die in anregendem Plauderton die Zeit von 1905 bis 1949 abhandelt, ist als wissenschaftliche Quelle erwiesenermaßen nicht zuverlässig (13). [3] Insofern ist es nur konsequent, wenn Kossel nach einer Einleitung in seinem zweiten Kapitel ein Frühwerk Henselmanns vorstellt und im dritten Kapitel auf Henselmanns Situation während der NS-Zeit eingeht. Im Folgenden werde ich mich insbesondere auf diese beiden Kapitel konzentrieren und verweise auf die beiden anderen Rezensionen zum Buch an gleicher Stelle.

Die von Kossel zunächst beschriebene Villa Kenwin entsteht 1929-1931 am Genfer See (19-20). Auf dem abschüssigen Gelände einer umgebenden Gartenanlage erhebt sich in Stahl, Glas und Beton das viergeschossige Gebäude. Während unten im Hauptwohnraum großzügiger Platz für die Empfänge der extravaganten Bauherren (21-23) geschaffen wurde, sich im 2. und 3. Stockwerk Arbeits- und Schlafräume befanden, bot die ausladende Dachterrasse einen grandiosen Blick über den See.

Wie der Verfasser erläutert, ist allerdings zu bezweifeln, dass dieses kühne Bauwerk tatsächlich als alleiniges Frühwerk von Henselmann gelten kann (24-26). Kossel schreibt den Außenentwurf anhand eines stilistischen Vergleichs zweier Zeichnungen dem ungarischen Filmarchitekten Alexander Ferenczy zu: "Henselmanns belegbarer Anteil am Bau der Villa beschränkt sich auf die Innenarchitektur und die Gartengestaltung" (30). Der 10 Jahre ältere Ferenczy hatte Henselmann in Berlin kennengelernt und ihn gefragt, ob er das Projekt für ihn übernehmen wolle. Der genaue Zeitpunkt des Kennenlernens bleibt jedoch unklar (23, FN 121) und ebenso, ob die Vorentwürfe Ferenczys bereits vor der Einbeziehung Henselmanns vorlagen. Da Ferenczy 1931 tödlich verunglückte, war es in jedem Fall Henselmann, der das Projekt fertigstellte.

Wer auch immer als Hauptentwerfer der Villa gelten kann: Kossel weist dem Bauwerk eine Schlüsselstellung im Wirken Henselmanns zu. Die modernen Gestaltungselemente des Bauwerks bezögen sich auf Le Corbusiers "cinq points", so Kossel, seien aber lediglich als "Schauwerte appliziert" und spiegelten weder "Funktion oder gar Konstruktion" wieder (32). Kossel findet dafür den Begriff der "Chiffren der Moderne" (34). Henselmann habe demnach bei diesem Bauprojekt gelernt, dass Architektur als eine "ideale Projektionsfläche für die jeweiligen moralischen, politischen und zeitgeistigen Inhalte einer bestimmten Zeitspanne und Klientel" dienen könne. Diese "eklektizistische Arbeitsweise" bleibe "für große Teile seines Werkes verbindlich" (34).

Aber was sind die moralischen, politischen und zeitgeistigen Inhalte, von denen Kossel schreibt? Genauer erläutert er das nicht. Spätestens hier wird ein grundsätzliches Problem der Arbeit deutlich. Obwohl der Begriff der "Moderne" eine zentrale Rolle spielt, hat es der Verfasser versäumt, diesen so schillernden wie strittigen Terminus in seinem Anfangskapitel zu definieren. [4] Auch wenn Kossel ihn rein stilistisch meint, dann sagt er das einleitend nicht explizit. Vage bleibt dementsprechend das Verhältnis von Stil und Inhalt. Lediglich zum Schluss geht Kossel kurz auf die historische Entwicklung der "Moderne" ein (178-180). Diese knappen Hinweise können jedoch nicht die ausführliche Reflexion eines theoretisch-methodisch fundierten Kapitels ersetzen.

Das Kapitel 3 stellt sich vom Charakter her anders dar, da hier kein einzelnes Gebäude im Vordergrund steht. Kossel referiert darin in sieben Unterpunkten Henselmanns Lebensstationen zwischen 1933 und 1945, wobei er sich in vielerlei Hinsicht allein auf Henselmanns Autobiografie und dessen eigene Aufsätze bezieht. Dies steht in gewissem Widerspruch zu Kossels Anspruch, die Selbstaussagen Henselmanns hinterfragen und ergänzen zu wollen. Vier Berliner Einzelhäuser Henselmanns werden kurz vorgestellt (37-41), ein Wettbewerbsbeitrag erläutert (41-42) und seine Tätigkeit im Warthegau (43-45, 47-50) und für den Industriearchitekten Godber Nissen (50-53) beschrieben. Der Leser erfährt, dass Henselmann als "Halbjude" von der Reichskulturkammer ausgeschlossen wurde und nur mithilfe einer Sondergenehmigung weiterarbeiten konnte (45-47). Das sind wichtige Inhalte, allerdings verlässt Kossel damit streng genommen seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Auf Henselmanns Verhältnis zur "Moderne" bzw. auf das schwierige Verhältnis von Nationalsozialismus und "Moderne" überhaupt geht er nur in Ansätzen ein (51-52).

Kossel hat mit seiner Untersuchung einen ersten Versuch unternommen, das Wirken Henselmanns in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR in den Blick zu bekommen. Dieses Unterfangen ist in jedem Fall zu würdigen. Da er die Untersuchung der Modernerezeption im Untertitel seiner Arbeit ausdrücklich auf die DDR beschränkt, mag Kossel selbst den Eindruck gehabt haben, dass die beiden von der Rezensentin beschriebenen Kapitel in dieser Hinsicht noch zu viele Fragen offen lassen. Dies wird wohl auch der schwierigen Quellensituation geschuldet gewesen sein (13). Ein umfassender stilistischer Vergleich mit Bauten anderer Architekten aus Henselmanns Generation, die Einbeziehung von jeweils geltenden Baugesetzen und -regularien, die Suche nach weiteren, übergreifenden Primärquellen und die genauere Untersuchung des Verhältnisses von privatem oder staatlichem Auftraggeber und Architekt könnten hier ein weiterer, erfolgversprechender Weg sein.


Anmerkungen:

[1] Gabriele Wiesemann: Hanns Hopp 1890-1971. Königsberg, Dresden, Halle, Ost-Berlin: eine biographische Studie zu moderner Architektur, Schwerin 2000.

[2] Hermann Henselmann / Wolfgang Heise: Gedanken, Ideen, Bauten, Projekte, Berlin 1978.

[3] Hermann Henselmann: Drei Reisen nach Berlin, Berlin 1981.

[4] Außerdem fehlt die Auseinandersetzung mit der vorhandenen Forschungsliteratur, hier sei nur auf zwei klassische Beispiele zur Weimarer Republik und NS-Zeit verwiesen: Norbert Huse: "Neues Bauen" 1918-1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik, Berlin 1985, 2. Aufl.; Winfried Nerdinger (Hg.): Bauen im Nationalsozialismus. Bayern 1933-1945, München 1993, hier insbesondere der erste einführende Aufsatz von Nerdinger: Bauen im Nationalsozialismus: von der quantitativen Analyse zum Gesamtzusammenhang.

Rezension über:

Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR (= Forschungen zur Nachkriegsmoderne), Königstein im Taunus: Karl Robert Langewiesche Nachfolger 2013, II + 198 S., 2 Farb-, 200 s/w-Abb., ISBN 978-3-7845-7405-9, EUR 39,80

Rezension von:
Anke Blümm
Brandenburgische Technische Universität, Cottbus
Empfohlene Zitierweise:
Anke Blümm: Rezension von: Elmar Kossel: Hermann Henselmann und die Moderne. Eine Studie zur Modernerezeption in der Architektur der DDR, Königstein im Taunus: Karl Robert Langewiesche Nachfolger 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/10/26595.html


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