sehepunkte 15 (2015), Nr. 10

Thomas Sandkühler (Hg.): Historisches Lernen denken

Mit Sandkühlers Interview-Edition liegt der geschichtsdidaktisches Disziplin sicher eines der wichtigsten Bücher der vergangenen Jahre vor: Es frischt eine Art disziplinäres Lebensgedächtnis wieder auf, das im Zuge des großen professoralen Generationswechsels der vergangenen 10 Jahre etwas vom Verblassen bedroht zu sein schien. Insofern - und in Absehung aller möglichen Kritik im Detail - steht eine Leseempfehlung ungewöhnlicher Weise gleich am Beginn dieser Rezension. Wer die Kontexte und die intertextuellen Verbindungen von früher Publiziertem nicht kennt und reflektiert, dem bleiben die darin entwickelten Argumentationen undurchsichtig. Als Zitate-Steinbruch natürlich allemal verwendbar, nicht aber als intellektuelle Herausforderungen.

Dabei handelt es sich bei diesem Buch um einen typischen Langsam- und Mehrfachlesetext, immer wieder hält man inne, gleicht mit eigenen Kenntnissen und Erfahrungen ab, vertieft sich in den umfangreichen Apparat und wird oft fasziniert von der biographischen Würde gelebten WissenschaftlerInnen-Lebens, aber auch seiner Vergänglichkeit.

Es geht um eine disziplingeschichtliche Phase, in der sich viele Vertreterinnen und Vertreter der westdeutschen Geschichtsdidaktik entschieden von der Geschichtsmethodik alten Stils abgewendet haben, um nicht mehr nur Vollzugsorgan der jeweils herrschenden Bildungsmacht zu sein. Es war auch eine Phase, in der in fast allen westdeutschen Ländern die Fachdidaktiken aus den Pädagogischen Hochschulen in die universitären Institute überführt wurden und in der im Rahmen der Bildungsexpansion zahlreiche Professuren mit ausgesprochen jungen und nach Maßgabe herkömmlicher Qualifizierungsstandards noch wenig ausgewiesenen Kolleginnen und Kollegen besetzt wurden. Und es war eine Phase, in der durch die eben angedeuteten, durchaus konfliktbelasteten disziplinären Konstituierungsprozesse die neue Zentralkategorie "Geschichtsbewusstsein" wie ein Fixstern am Firmament zu leuchten begann.

14 ausführliche Interviews hat Thomas Sandkühler in den Jahren 2012 und 2013 geführt, die in diesem Band dokumentiert werden. Hinzu kommt ein Quellenfund, nämlich eine nunmehr transkribierte Bandaufnahme einer disziplingeschichtlich geradezu mythischen Kontroverse zwischen Joachim Rohlfes und Annette Kuhn auf dem Mannheimer Historikertag im Jahr 1976 (505-538). Dieser Quellenfund ist eine disziplingeschichtliche Preziose, insbesondere im Hinblick auf die Interviews. Inhaltlich eigentlich gar nicht sehr ergiebig, liegt die besondere Bedeutung dieses Protokolls darin, die an sich sattsam bekannte Differenz von Erinnerung und Vergangenheit aufzudecken und dadurch gleichzeitig die Mythizität der damaligen Konflikte durch Banalisierung zu relativieren. Sicher gab es entschiedene wissenschaftliche Konflikte in der jungen Geschichtsdidaktik, die - wie sollte es anders sein - biographisch und politisch aufgeladen waren, aber im Grunde wurden diese Konflikte doch nicht anders ausgetragen als ähnliche heute auch.

Inhaltlich ergiebig sind erfreulicherweise die Interviews selbst. Sandkühler beschreibt die Auswahl seiner InterviewpartnerInnen ausführlich (9-13), ohne dass sich dem Leser das Bild einer strengen, kategoriengeleiteten Auswahl vermitteln würde, zu verschieden nach Alter, Sozialisation und Berufsverlauf sind die Protagonisten dieses Bandes. Zu wenig repräsentativ erscheint auch die Auswahl für die oben beschriebene Achsenzeit der westdeutschen Geschichtsdidaktik. Natürlich, wichtige Vertreterinnen und Vertreter sind für ein Interview gewonnen worden. Positiv ist auch zu bemerken, dass die Gruppe auch in ihren Ansichten pluralistisch war und ist. Jedoch ergibt sich doch der Eindruck, dass das Umfeld der damals neu-gegründeten und gegen die GWU opponierenden Zeitschrift "Geschichtsdidaktik" dominiert. Das hat sicher seine Berechtigung, handelt es sich doch gewiss um die "Sieger" der Disziplingeschichte. Wenn es aber darum geht, die Situation der Siebzigerjahre nachzuzeichnen, steht zu vermuten, dass der damalige geschichtsdidaktische Mainstream an vielen Hochschulen, Universitäten und Studienseminaren anders dachte und empfand. Insofern klären die Interviews über die Entstehungsgeschichte des heutigen geschichtsdidaktischen Juste Milieu auf, es ist, wenn man so will, eine genetische Untersuchung.

Sandkühler bemüht nicht zuletzt generationstheoretische Ansätze (15-21), um die Gruppe seiner InterviewpartnerInnen zu beschreiben. Es sind bei ihm die bekannten Ansätze der 45er und die 68er Generation, die zur Erklärung herangezogen werden. So sehr dem Rezensenten der disziplingeschichtliche Gewinn solcher Fragen an sich einleuchtet, wie es zuerst Saskia Handro 2002 gezeigt hat [1], so wenig konnte dieser Ansatz in diesem Interviewband durchgearbeitet werden und bleibt erst einmal eine mögliche Hypothese.

Zur Technik und Methode der Interviews äussert sich Sandkühler kurz (13-15), dabei mag es verwundern, warum der Ansatz der Experteninterviews, der hier doch so einschlägig erscheint, zwar u.a. genannt, aber nicht auf das Projekt bezogen wird. Ansonsten erscheint die Schilderung der konkreten Untersuchungsdurchführung nachvollziehbar. Es gehört zum Wesen solcher Experteninterviews, dass man mit Autorisierungen arbeiten muss und die Gesprächspartner different widerspenstig sind. Daraus ergeben sich unvermeidbar unterschiedliche mündliche Authentizitätsgrade der veröffentlichten Transkripte, die man quellenkritisch sicher gewichten sollte.

In seiner leitfadengesteuerten halboffenen Fragetechnik wechselt Sandkühler in den einzelnen Interviews regelmässig die Modi, anfangs findet man jeweils freie Passagen, in der die Interviews einem interessierten Gespräch gleichen, dann gegen Mitte der Interviews werden die Fragen steuernder und versuchen richtigerweise eine Vergleichsebene zwischen den Interviews herzustellen und zu gewährleisten. Bisweilen ist der Abstand zu Suggestivfragen am Ende nur noch gering; insbesondere dann, wenn der in der Einleitung postulierte und der gegenwärtigen zeithistorischen Diskussion entlehnte Thesenzusammenhang geprüft werden soll: v.a. die Siebzigerjahre als Jahrzehnt der politischen Polarisierung.

Einzeln herausgehoben werden soll hier keines der Interviews mit Rolf Schörken, Joachim Rohlfes, Wolfgang Hug, Ursula A.J. Becher, Annette Kuhn, Werner Boldt, Karl Filser, Jörn Rüsen, Peter Schulz-Hageleit, Hans-Jürgen Pandel, Ulrich Mayer, Bodo von Borries, Gerhard Schneider und Susanne Thurn. Jedes von ihnen ist auf seine Weise vielfältig aufschlussreich.

Das Buch ist vorzüglich durch ausführliche und historisch immer wieder kontextualisierende Fußnoten und ein Namenregister erschlossen. In diesen Fußnoten und seinen Fragen zeigt und verarbeitet der Interviewer eine stupende geschichtsdidaktische Literaturkenntnis. Das ist ein Grund mehr, weshalb dieser Interviewband zur Lektüre dringend empfohlen wird. Die kleinen methodischen Monita verblassen vor der Tatsache, dass Sandkühler das disziplinäre Gedächtnis der Geschichtsdidaktik neu justiert hat.


Anmerkung:

[1] Saskia Handro: Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945-1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt, Weinheim 2002.

Rezension über:

Thomas Sandkühler (Hg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928-1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976, Göttingen: Wallstein 2014, 550 S., ISBN 978-3-8353-1409-2, EUR 44,00

Rezension von:
Marko Demantowsky
Pädagogische Hochschule FHNW / Universität Basel, Basel und Brugg/Windisch
Empfohlene Zitierweise:
Marko Demantowsky: Rezension von: Thomas Sandkühler (Hg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928-1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976, Göttingen: Wallstein 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/10/26441.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.