Rezension über:

Birgit Metzger: "Erst stirbt der Wald, dann du!". Das Waldsterben als westdeutsches Politikum (1978-1986), Frankfurt/M.: Campus 2015, 665 S., ISBN 978-3-593-50092-8, EUR 45,00
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Rezension von:
Michael Wettengel
Stadtarchiv Ulm / Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Michael Wettengel: Rezension von: Birgit Metzger: "Erst stirbt der Wald, dann du!". Das Waldsterben als westdeutsches Politikum (1978-1986), Frankfurt/M.: Campus 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/24720.html


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Birgit Metzger: "Erst stirbt der Wald, dann du!"

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Wie kaum eine andere umweltpolitische Debatte bewegte die Diskussion um das "Waldsterben" die westdeutsche Öffentlichkeit. [1] Zu Beginn der 1980er-Jahre lösten vor allem Warnungen von Forstwissenschaftlern wegen zahlreicher Schäden an Bäumen durch Luftverunreinigungen die Befürchtung aus, dass Wälder großflächig absterben könnten. In dem folgenden, öffentlich ausgetragenen, "emotional und moralisch aufgeladene[n] Katastrophendiskurs" war von einem "ökologischen Hiroshima" oder einem "ökologischen Holocaust" die Rede (10). Das Nichteintreten des Katastrophenszenarios führte seinerseits wiederum zu einer heftigen publizistischen Auseinandersetzung.

In der vorliegenden Doktorarbeit, die im Rahmen des interdisziplinären DFG-Projektes "Und ewig sterben die Wälder. Das deutsche 'Waldsterben' im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik" an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg entstanden ist [2], geht es darum, zu untersuchen, welche Rolle die "Natur" und der "Wald" in dieser Debatte in Westdeutschland einnahmen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den unterschiedlichen Akteuren, hier vor allem "Experten", Politik und Verwaltung sowie Umweltverbänden und Medien. Das Ziel ist es zu zeigen, inwieweit die Debatte um das Waldsterben zum Verständnis moderner Umweltprobleme beiträgt und "charakteristische Züge der westdeutschen Gesellschaft Anfang der 1980er Jahre aufweist" (21). Die Dissertation trägt damit zur Erforschung der Umweltgeschichte der 1980er-Jahre bei, die in vielerlei Hinsicht Neuland darstellt.

Das Buch beginnt mit den Ursprüngen der Auseinandersetzung um das Waldsterben. In einem Überblick werden zunächst die staatliche Umweltpolitik und die Umweltbewegungen in der Bundesrepublik bis zum Ende der 1970er-Jahre beleuchtet. Danach werden die Themen Saurer Regen und Luftverschmutzung in der Umweltpolitik dieser Zeit und die "Entdeckung" des "Waldsterbens" untersucht. Dabei interessiert besonders das Verhältnis zwischen forstlicher Beobachtung und wissenschaftlichen Ergebnissen sowie deren Interpretationen und gesellschaftspolitischen Deutungen. Ob das Waldsterben hierbei entdeckt oder konstruiert wurde, bleibt in der Studie letztlich offen.

Der zweite Teil behandelt schwerpunktmäßig die Jahre 1983 und 1984, in denen das "Waldsterben" zu einem eminent wichtigen gesellschaftlichen und politischen Thema wurde, das eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit erzielte. Bemerkenswert war dabei die Einigkeit, die hinsichtlich der Bewertung des Problems über die politischen Lager hinweg bestand. Das "Waldsterben" förderte dadurch die Akzeptanz umweltpolitischer Fragestellungen in der Öffentlichkeit. Trotz dieses breiten Konsenses entstand eine heftige Kontroverse über die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen. Der Regierungswechsel zu einer CDU/CSU-FDP-Koalition 1982 und der Wahlkampf 1983 sorgten für eine Politisierung und Dynamisierung der öffentlichen Debatte, damit verbunden auch ein "Katastrophendiskurs", den die Verfasserin als Ausdruck einer "fundamentalen Krisenwahrnehmung" jener Zeit interpretiert (388).

Im letzten Kapitel werden Konzepte, Strategien und konkrete Praktiken der Akteure in Politik und Gesellschaft bei der Behandlung des Problems analysiert. Zum Abschluss wird das allmähliche Abklingen der Debatte um das Thema Waldsterben dargestellt, das spätestens seit 1986 in den Fachzeitschriften und Printmedien deutlich und kontinuierlich an Aufmerksamkeit verlor.

Die Arbeit beruht auf einer umfassenden Auswertung der Quellen vor allem im Bundesarchiv, in den Parteiarchiven, den Archiven der sozialen Bewegungen sowie in Privatarchiven und Pressedokumentationen. Bedauerlicherweise konnten Fernsehbeiträge und Dokumentarfilme nur exemplarisch ausgewertet werden. Dies ist zwar unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten und angesichts der schwierigen Zugänglichkeit filmischer Quellen nachvollziehbar, stellt aber dennoch eine große Einschränkung dar. Gerade die Berichterstattung im Fernsehen bildete für die Waldsterbensdebatte und für die Wahrnehmung des Umweltschutzes seit den 1970er-Jahren insgesamt die entscheidende Voraussetzung.

Die methodisch gut fundierte und gründlich erarbeitete Studie gelangt zu wichtigen Erkenntnissen: So erwies sich die staatliche Verwaltung für Umweltthemen aufgeschlossen. Noch vor Beginn der Debatte um das Waldsterben untersuchte sie die Auswirkungen der Luftverschmutzung auf den Wald und plante konkrete Gegenmaßnahmen, die sie im Zuge der wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit umsetzen konnte. Nicht die Zunahme der Emissionen bildeten den Auslöser für die Debatte, sondern die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Verbreitung der Emissionen und deren Auswirkungen auf die Natur. Waren Umweltprobleme zuvor noch weitgehend auf eine Fachöffentlichkeit beschränkt, so wurden seit den 1970er-Jahren Umweltdebatten öffentlich und kontrovers unter Beteiligung vieler Akteure geführt. Die Verfasserin sieht die Debatte um das Waldsterben daher als einen Wendepunkt vom "Jahrzehnt des Aufbruchs und der Politisierung im Umweltschutz" zu den 1980er-Jahren, die sie als eine Zeit der "Konsolidierung" interpretiert (604). Sie verwendet hier das zeitgenössische Konzept der "ökologischen Modernisierung" im Sinne einer Vereinbarkeit von Umweltschutz und Wirtschaftswachstum (605), das aber nicht von allen Akteuren geteilt wurde. [3] Inwieweit für die Periode der frühen 1980er-Jahre von einer "weitgehenden Entpolitisierung" (604) gesprochen werden kann, dürfte fraglich sein, fand diese Debatte doch zeitgleich mit der Entstehung der "Grünen" als Partei statt.

Die Waldsterbensdebatte wirft die Frage auf, warum diese gerade in Westdeutschland mit solcher Heftigkeit geführt wurde. Die Verfasserin sieht eine Ursache darin, dass der Wald und der Umweltschutz akzeptierte Bezugspunkte für die bundesrepublikanische Identitätssuche gebildet hätten (598). Die damalige politische Kultur der Zeit in der Bundesrepublik bietet somit einen zentralen Ansatz für das Verständnis des Umgangs mit Umweltproblemen. Mit Spannung sind daher die weiteren Ergebnisse des Projektes zu erwarten, etwa für die damaligen Diskussionen in der DDR und in Frankreich. Der Schlusssatz der Verfasserin, dass die Debatte "einen Blick auf die Beschaffenheit und Befindlichkeit der westdeutschen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur in den 1980er Jahren" eröffnet habe (606), wäre daher der Ausgangspunkt für weitergehende Fragen.


Anmerkungen:

[1] Zum Forschungsstand Roderich von Detten: Umweltpolitik und Unsicherheit. Zum Zusammenspiel von Wissenschaft und Umweltpolitik in der Debatte um das Waldsterben der 1980er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 217-269; ders. (Hg.): Das Waldsterben. Rückblick auf einen Ausnahmezustand, München 2013.

[2] URL: http://www.waldsterben.uni-freiburg.de/ (12.08.2015).

[3] Vgl. Martin Bemmann / Birgit Metzger / Roderich von Detten (Hgg.): Ökologische Modernisierung. Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts in Umweltpolitik und Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. / New York 2014.

Michael Wettengel