sehepunkte 15 (2015), Nr. 3

Henry Keazor / Tina Öcal (Hgg.): Der Fall Beltracchi und die Folgen

Als im Oktober 2011 am Kölner Landgericht einer der größten Kunstfälscher-Prozesse mit der Verurteilung des Hauptangeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs zu sechs Jahren Haft zu Ende ging, war eine ganze Branche in Verruf gebracht. Der 'Fall Beltracchi' habe - wie der SPIEGEL in seiner Online-Ausgabe vom 27.10.2011 schlussfolgerte - "die Absurdität des Kunstmarkts entlarvt, auf dem Gemälde berühmter Maler vordergründig Bilder, vor allem aber spekulative Kapitalanlage sind." Seit der Identifizierung eines gefälschten, im November 2006 im Kölner Auktionshaus Lempertz versteigerten 'Campendonk'-Gemäldes konnten bereits über 50 Werke eindeutig dem Betrüger zugeschrieben werden; Beltracchi selbst spricht von etwa 300 gefälschten Gemälden. Wieder einmal war von der maßlosen Gier im Kunstmarkt die Rede, von glamourösen Partys, schillernden Persönlichkeiten und halbseidenen Kunsthändlern. Ein eulenspiegelhafter Alt-Hippie passte da gut ins Bild, dem die Sympathien der Öffentlichkeit nur so zuflogen, hatte es doch endlich mal jemand der Kunst-Schickeria gezeigt. Von "Generalverdacht" gegen einen ganzen Markt schreiben Henry Keazor und Tina Öcal in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband, der "sämtliche Experten in Sippenhaft" nehme und "Moralpredigten" hervorgebracht habe, "deren Tenor bereits die prinzipielle Verwerfung der Verbindung von Kunst und Geld in sich" trage (50). Über zwei Jahre nach dem medienträchtigen Gerichtsprozess versteht sich ihre Publikation, die überwiegend Beiträge einer interdisziplinären Tagung im Dezember 2011 sowie einem darauf folgenden Workshop an der Goethe-Universität Frankfurt zusammenträgt, als "Bestandsaufnahme" (4) der Folgen des Beltracchi-Falles. "Was also ist aus diesem, durch eine derartige Krise provozierten Elan und Reformwillen geblieben und was hat sich in anderen Bereichen wie der Kriminologie, Jurisprudenz und Gemälderestaurierung verändert?" (3)

Nach einem aufschlussreichen und lesenswerten Aufsatz der Herausgeber über das "System Beltracchi" aus kunsthistorischer Perspektive plädieren Jill Nadolny und Nicholas Eastaugh, die im Zuge der Ermittlungen des LKA Berlin einige Pigmentanalysen vornahmen, bei der Fälschungsforschung für eine programmatische Verzahnung von (material-)historischen und naturwissenschaftlich-technischen Kompetenzbereichen. "When forgeries are sophisticated, the knowledge of the investigator must be as well. Simple knowledge of scientific analytical techniques and basic information on pigment production chronologies may not suffice." (60)

Verbunden mit einem ausführlichen Rechtsprechungsverzeichnis würdigen Michael Anton und Richard Klemmer die juristischen Hintergründe der Causa Beltracchi aus zivil- und strafrechtlicher Sicht. Die polizeilichen Erkenntnisse aus dem Ermittlungskomplex schildert Kriminalrat Kristian Grüning aus Berlin, der sechs polizeiliche Handlungsempfehlungen vorstellt, um Strafverfolgungsbehörden in Sachen Kunstfälschung zu professionalisieren. Vor dem Hintergrund der Länderhoheit von Polizeiangelegenheiten und dem Fehlen bundesweit einheitlicher Zentralregister scheint dies dringend geboten, um auch zukünftig die immer besser informierten, technisch versierten und international operierenden Fälscher überführen zu können.

Die Perspektive des Kunsthandels wird von der Geschäftsführerin des Bundesverbandes Deutscher Galerien und Kunsthändler e.V., Birgit Maria Sturm, eingenommen. Dabei zählt es freilich zu den Aufgaben einer berufsständischen Interessensvertretung, dass zunächst "ein vor allem in Deutschland verbreitetes, irrationales Ressentiment gegen den Kunstmarkt" beklagt wird, wobei es doch eine "Tatsache" sei, "dass Galeristen und Kunsthändler nicht nur von kommerziellen Interessen, sondern wesentlich von einem kulturellen Ethos und der Leidenschaft der Vermittlung authentischer bildender Kunst motiviert" seien (160f.). Doch muss auch sie bekennen: "Allerdings müssen sich auch die - gutgläubig - in den Beltracchi-Skandal involvierten Kunsthändler den Vorwurf gefallen lassen, jedwede Skepsis angesichts vermeintlich 'marktfrischer' und 'verschollener' Werke aus einer völlig unbekannten Privatsammlung ausgeblendet zu haben." (161) Natürlich geht es nicht darum, den Kunstmarkt zu diskreditieren, was allein schon deshalb aberwitzig wäre, weil die Wertsysteme von Kunst und Ökonomie immer schon aufeinander bezogen sind. Gleichzeitig aber bedarf es vor dem aktuellen Hintergrund exorbitanter Margen in einem kaum regulierten und höchst intransparenten Feld sicher mehr als rechtlich völlig unverbindlicher Verhaltensrichtlinien für Vereinsmitglieder. Anstelle von Selbstverpflichtungen, die bei Regelverletzung folgenlos bleiben, sind gesetzliche Sorgfaltspflichten angezeigt, wie sie im zivilrechtlichen Nachgang des Beltracchi-Falles erstmals für das Auktionswesen gerichtlich formuliert wurden. Insofern schafft sich auch der Kunstmarkt gerade durch Fälle wie Beltracchi selbst die Gesetze, die er zeitgemäß benötigt.

Ein wenig erstaunlich mutet daneben die mit Verve vorgetragene Philippika gegen eine Ausstellung mit Werken des Fälschers Edgar Mrugalla an, die 2007 im schleswig-holsteinischen Ministerium für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr stattgefunden hat. Nicht nur, dass Ausstellungen von Fälschungen bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt einsetzen (z.B. 'Falsch oder Echt?', Kunstmuseum Basel 1953), sondern auch, weil sich gerade am Studium der Fälschung viel über Originale lernen lässt. Zu Felde zieht Sturm auch gegen "die missbräuchliche Anwendung des Begriffes 'Originalität'" (154), für die eine irreführende Bewerbung eines wertlosen Tchibo-Kunstdrucks angeführt wird. Während sich die (modernistischen) Konzepte von Autorschaft und Authentizität seit den (postmodernen) Diskursen der Sechziger- und Siebzigerjahre aus kunsttheoretischer Sicht längst überlebt haben, bildet Originalität vor dem Hintergrund von Angebot und Nachfrage eine tragende Säule des Marktes, an der "Editeure, Galerien und Kunsthändler ein legitimes Interesse" haben (155). Selbstverständlich muss hier zwischen einer kriminellen Straftat und einer künstlerischen Praxis unterschieden werden. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass Urteile über Originale und Fälschungen kulturrelativ sind und ein bestimmtes Wertesystem spiegeln. Fakes und Fälschungen führen auf diese Weise zu einer Umwertung der Werte: Sie entwerten das Original und werten das Nachgemachte auf, was im Markt zwangsläufig als Bedrohung erfahren werden muss.

Einen ganz anderen Blick auf Beltracchi wirft der Psychotherapeut Manfred Clemenz, wenn er auf der Grundlage von Interviews dessen Persönlichkeit zu ergründen sucht, um sozialpsychologische Dispositionen für eine Fälscherkarriere auszumachen. Was kennzeichnet eine Fälscherpersönlichkeit?

Den Abschluss bilden Anmerkungen zum öffentlichen Diskurs über Kunstfälschungen des Wahrnehmungstheoretikers Hans Zitko. Sein Essay beschreibt die "Kunstwelt" als platonisches "Höhlentheater" und bürstet die traditionellen Wertbegriffe des Kunstsystems ordentlich gegen den Strich, wenn er in der vermeintlichen Ent-Tarnung des Fälschers die eigentliche "Produktion von Trugbildern" ausmacht: "So werden Künstler auf Identitäten festgelegt und die Kulte um das Originalwerk aufrechterhalten, um der besitzenden Klasse die Bildung von stabilem Vermögen zu ermöglichen." (204)

Im Ergebnis halten die Herausgeber fest, dass "sich bis dato auch erste Änderungen oder bevorstehende Veränderungen als konkrete Vorhaben ab(zeichnen), die durchaus als positive Lehren aus dem Beltracchi-Fall zu werten sind." (11) Das Hohelied der Interdisziplinarität, Transparenz und Offenheit, das in fast allen Beiträgen gesungen wird, kulminiert dabei in der mehrfach vorgetragenen Forderung eines "zentralen Fälschungsarchivs", dessen Aufbau unterdessen an der Universität Heidelberg, wo Henry Keazor die Professur für Neuere und Neueste Kunstgeschichte inne hat, reift und "das Fälschungen zum Zwecke der Forschung und Lehre, aber auch der Prävention künftig sammelt und archiviert" (11). Tatsächlich wäre mit einem solchen Archiv gleich auch ein weiteres Problem aus dem Fall Beltracchi gelöst: Wohin mit all den Fälschungen?

Wie aber war es nun überhaupt möglich, dass sich renommierte Auktionshäuser, bedeutende Galerien und angesehene Experten über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten haben täuschen lassen? Was bislang - auch im Kölner Strafprozess - noch unberücksichtigt geblieben ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit für den jahrzehntelangen Vertrieb von Fälschungen im internationalen Kunsthandel. Die Zusammenführung unterschiedlichster Blickwinkel auf den 'Fall Beltracchi' ist ein großes Verdienst des vorliegenden Sammelbandes, der durch hilfreiche Verweise, Abbildungen und Register eine gute Grundlage für weitere Auseinandersetzungen bildet. Eine Synthese aus dem breit aufgefächerten, äußerst heterogenen Material jedoch muss an anderer Stelle erfolgen. So bleibt die Frage nach jenen Strukturen im Kunstmarkt, die das methodisch-systematische Vorgehen der Betrüger über einen langen Zeitraum erst ermöglicht haben, noch zu beantworten - "jenseits aller Abwertung, Tabuisierung oder Adelung." (50) Dass dies - wie Kunstmarktforschung allgemein - nur auf interdisziplinäre Weise geschehen kann, versteht sich von selbst.

Rezension über:

Henry Keazor / Tina Öcal (Hgg.): Der Fall Beltracchi und die Folgen. Interdisziplinäre Fälschungsforschung heute, Berlin: de Gruyter 2014, 260 S., 66 Farbabb., ISBN 978-3-11-031589-9, EUR 49,95

Rezension von:
Ulli Seegers
Institut für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Ulli Seegers: Rezension von: Henry Keazor / Tina Öcal (Hgg.): Der Fall Beltracchi und die Folgen. Interdisziplinäre Fälschungsforschung heute, Berlin: de Gruyter 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 3 [15.03.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/03/25045.html


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