sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8

Lutz Haarmann: Teilung anerkannt, Einheit passé?

Lutz Haarmanns Dissertation ist einem bislang in der Deutschlandforschung kaum beachteten Phänomen gewidmet: den etwas sperrig als "status-quo-oppositionelle Kräfte" bezeichneten Befürwortern einer aktiven Wiedervereinigungspolitik in den 1970er und 1980er Jahren. Gegen "erhebliche Widerstände im eigenen politischen Lager und im auf die Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgerichteten intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik" (31) seien diese zahlenmäßig überschaubaren Gruppen bzw. Einzelkämpfer für die Offenheit der Deutschen Frage eingetreten und damit "- ex post - ihrer Zeit praktisch weit voraus" (343) gewesen.

Seine Akteure, deren Spuren er bis hinein in Privatarchive und -sammlungen gefolgt ist, findet Haarmann in allen politischen Parteien. Unter den Christdemokraten machte sich der deutschlandpolitische Arbeitskreis der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft für eine aktive Deutschlandpolitik stark, in der SPD der Kurt-Schumacher-Kreis und in der FDP Detlef Kühn, der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts. Zu den akademischen Eliten, die einer verbreiteten "Weichzeichnung der DDR" (32) und einem Verzicht auf die Option der Wiedervereinigung entgegentraten, zählt der Verfasser die Führungspersönlichkeiten der Gesellschaft für Deutschlandforschung, die 1978 trotz des Widerstandes des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen ins Leben gerufen wurde, und den Arbeitskreis ehemaliger DDR-Akademiker. Befürworter einer Überwindung der Teilung Deutschlands findet er auch in der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML) in der Bundesrepublik, deren Vorstellungen von einem vereinten Deutschland unter sozialistischen Vorzeichen allerdings nie mehrheitsfähig waren. Trotz ihrer "vermeintliche[n] Deutschlandferne" (341) taten sich unter den Grünen insbesondere die Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste in Berlin und der Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion mit Konzepten einer "Paktfreiheit und Konföderation beider deutscher Staaten" (294) hervor.

Sie alle standen - wenn auch unterschiedlich motiviert und positioniert - gegen den "deutschlandpolitischen Mainstream" (31), der, so Haarmann, "für das Festschreiben des deutschlandpolitischen Status quo" (55) eintrat und diejenigen verdächtig fand, die mit ihrer Kritik am SED-Regime und an den Verhältnissen in der DDR sowie mit ihrem Eintreten für die Einheit Deutschlands die Entspannungspolitik und die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung zu gefährden drohten. Ein Beleg dafür, dass die Befürworter einer aktiven Wiedervereinigungspolitik als Bedrohung des deutschlandpolitischen Status quo betrachtet wurden, war auch ihre gezielte Beobachtung durch das Ministerium für Staatssicherheit. Sie wird vom Verfasser anhand des einschlägigen Archivmaterials nachgewiesen.

Bei aller Unterschiedlichkeit in deutschlandpolitischen Ansätzen und Zielvorstellungen zeigt der Blick auf die Biografien der vorgestellten Wiedervereinigungsbefürworter eine auffällige Gemeinsamkeit: Mit Ausnahme des Politikwissenschaftlers Jens Hacker besaßen alle durch ihre Herkunft besondere Bindungen in die DDR bzw. persönliche Erfahrungen mit dem SED-Regime, oder sie hatten, weil politisch in Berlin aktiv, die Mauer und damit die Teilung ständig unmittelbar vor Augen. Wohl daraus erklären sich ihr großes Engagement für eine Überwindung des Status quo in Deutschland und ihr beharrliches Schwimmen gegen den "Mainstream" in Medien und eigenen Parteien.

Für diesen von Haarmann immer wieder kritisierten "Mainstream" wünschte man sich in der Darstellung allerdings mitunter klarere Konturen: Explizit gescholten wird vor allem das "intellektuell-mediale Trommelfeuer der Zweistaatlichkeitsbefürworter" (38) in der Publizistik, die für die Verbreitung eines unkritischen DDR-Bildes und einer Verzichtshaltung in Sachen Wiedervereinigung gesorgt hätten. Trotzdem blieben für die bundesdeutsche Öffentlichkeit, wie der Verfasser einräumt, die Wahrnehmung der DDR als normales Ausland und die Befürwortung der Wiedervereinigung Deutschlands sehr wohl kompatibel. Offenbar machten die wechselnden Bundesregierungen - trotz ihrer durchweg "auf die Festigung des Status quo ausgerichtet[en]" Deutschlandpolitik (38) - mit ihrem anscheinend nur rhetorischen Festhalten am Ziel der deutschen Einheit und ihrem Eintreten gegen die SED-These von den zwei Nationen doch einiges richtig. Auch wird man keineswegs davon ausgehen dürfen - gelegentlich klingt dies bei Haarmann so -, als seien die "deutschlandpolitischen Opponenten" die einzigen gewesen, die "weiter an der unter Beschuss geratenen Präambel des Grundgesetzes" mit ihrem Wiedervereinigungsgebot festhielten und "nicht in Gleichgültigkeit angesichts der SED-Diktatur" (56f.) verfielen. Dass die Bundesregierungen bis 1989 kaum eine andere als die betriebene Deutschlandpolitik hätten umsetzen können, räumt er, in Anlehnung an Andreas Wirsching, selbst ein.

Haarmanns Studie zeigt eindrücklich, dass und warum die Status-quo-Gegner ihren Platz in der Geschichte der deutschen Einheit verdienen. Die ehemals in der DDR aus politischen Gründen inhaftierten Mitglieder des Kurt-Schumacher-Kreises oder auch ein ehemaliger Insider des SED-Regimes wie Hermann von Berg sorgten mit ihren kritischen Stellungnahmen für Diskussionen und dafür, dass das Bild der DDR in der Bundesrepublik immer wieder reflektiert werden musste. Querdenker wie Wolfgang Seiffert, Detlef Kühn und der - allerdings nur am Rande erwähnte - CDU-Politiker Bernhard Friedmann stießen mit ihren Überlegungen hinsichtlich möglicher Wege zu einer Wiedervereinigung öffentliche Debatten an, ebenso Rolf Stolz bei den Grünen. Mit ihren Gedankenspielen von 1986/87, die ein mögliches sowjetisches Interesse an einem einheitlichen Deutschland ins Kalkül zogen, waren sie ihrer Zeit nicht unbedingt weit, aber dennoch voraus. Dass alle deutschlandpolitische Expertise nicht ausreichte, um die Entwicklung abzusehen, zeigt sich an der Gesellschaft für Deutschlandforschung, deren Mitglieder bei einer Tagung vom 8. bis 10. November 1989 im Berliner Reichstag aus nächster Nähe staunend Zeugen des Mauerfalls wurden.

Der Verfasser hat mit seiner Dissertation einen notwendigen und gelungenen Beitrag zur Deutschlandforschung vorgelegt. Bezweifelt werden darf allerdings, dass alle Vordenker bzw. an der Wiedervereinigung 1989/90 Beteiligten seinem abschließenden Urteil zustimmen würden: Angesichts der Erfüllung des sehnlichen Wunsches der Wiedervereinigungsbefürworter "nach Freiheit und Einheit für alle Deutschen" seien die anschließenden Probleme mancher "mit dem Resultat der Einheit ... doch wirklich Peanuts" (344).

Rezension über:

Lutz Haarmann: Teilung anerkannt, Einheit passé? Status-quo-oppositionelle Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom Grundlagenvertrag bis zur Friedlichen Revolution. Mit Geleitworten von Rainer Eckert, Stephan Hilsberg und Detlef Kühn (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung; Bd. 104), Berlin: Duncker & Humblot 2013, 377 S., ISBN 978-3-428-14140-1, EUR 39,90

Rezension von:
Mechthild Lindemann
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Mechthild Lindemann: Rezension von: Lutz Haarmann: Teilung anerkannt, Einheit passé? Status-quo-oppositionelle Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom Grundlagenvertrag bis zur Friedlichen Revolution. Mit Geleitworten von Rainer Eckert, Stephan Hilsberg und Detlef Kühn, Berlin: Duncker & Humblot 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/07/24522.html


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