sehepunkte 14 (2014), Nr. 2

Andrzej Walicki: Encounters with Isaiah Berlin

Nach etlichen Publikationen über Marxismus, Philosophie, polnische und russische Geistesgeschichte und Totalitarismus hat der polnische Historiker Andrzej Walicki nun ein Buch über seinen Freund und intellektuellen Förderer Isaiah Berlin geschrieben. Genau genommen, das verspricht bereits der Titel, ist es kein Buch über Isaiah Berlin, sondern eine Beschreibung der Begegnung und der Jahrzehnte währenden Freundschaft der beiden Männer, der Förderung Walickis durch Berlin und dessen philosophische Arbeit. Einen großen Teil des Buches nimmt die Wiedergabe von Briefen Berlins an Walicki im Zeitraum 1962-1996 ein. Während sich die zahlreichen ideengeschichtlichen Werke über Berlin in überwältigender Mehrheit mit dessen Freiheitskonzept befassen, ist dieses Buch eine außerordentlich persönlich, nahezu intim geschriebene Geschichte einer intellektuellen Freundschaft zwischen zwei Ideengeschichtlern, wie sie die umfangreiche Literatur über Berlin bislang vermissen lässt.

Die Idee zu diesem Buch wurde bereits 1997 geboren, nach Berlins Tod, von dem Walicki aus der Zeitung erfahren musste. Er verfasste einen Aufsatz Isaiah Berlin as I Knew Him, der, gefolgt von einer Auswahl von Briefen Berlins an Walicki, zunächst an anderer Stelle erschien. [1] Mit dem genannten Aufsatz beginnt auch das anzuzeigende Buch, gefolgt von eben jenen Briefen. Den dritten und vierten Abschnitt bilden jeweils ein Aufsatz zur Marxistischen Freiheitskonzeption und zu Berlins Auseinandersetzung mit der russischen intelligencija während des Sowjetregimes.

Der im ersten Abschnitt dokumentierte Aufsatz besteht wiederum aus elf Unterkapiteln, die die einzelnen Etappen und Themen des Austausches und der Freundschaft beleuchten. Walicki beschreibt, dass man sich zuerst Anfang 1960 im All Souls College in Oxford begegnete. Berlin trat hier als Fellow in Erscheinung, Walicki war Stipendiat der Ford Foundation. Ihre Freundschaft habe sich von Anfang an durch eine starke Nähe ausgezeichnet, was Walicki durch etliche Beispiele erläutert. Dies geschieht zum größten Teil auf rein wissenschaftliche, in ausgesuchten Abschnitten aber auch auf sehr persönliche Weise. So erfährt der Leser neben Beschreibungen von Berlins Freiheitskonzeptionen und seiner tiefen Verbundenheit zur vorrevolutionären intelligencija auch, dass er ein für Walicki völlig unverständliches Englisch sprach, was die beiden auf die russische Sprache zurückgreifen ließ, dass Berlin zwiegespalten war, ob er seinen "Sir"-Titel annehmen sollte, und es schließlich seiner Mutter zuliebe tat und dass er von September 1945 bis Januar 1946 für das britische Außenministerium in der Sowjetunion tätig war und in dieser Zeit Anna Achmatova und Boris Pasternak traf.

Die Briefe, der Kern des Buches, sind ausschließlich fachlichen Inhalts. Auf Englisch, in einem einzigen Fall von 1964 auf Russisch publiziert, findet sich hier nichts Oberflächlich-Alltägliches, sondern die Briefe transportieren ausschließlich philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Themen. Die letzten beiden Abschnitte sind verhältnismäßig kurz. In The Marxian Conception of Freedom erklärt Walicki, er verstehe Marx dahingehend, dass die Bedeutung der Geschichte in der Realisierung der Freiheit begründet liege. Auch Marx' Einschätzung des Kapitalismus folge diesem Gedanken. In diesem Zusammenhang bewertet Walicki - seiner Ansicht nach im Gegensatz zur Zweiten Internationale - Das Kapital als ein philosophisches Werk. Der letzte Abschnitt widmet sich der philosophischen Arbeit Berlins. Hauptsächlich gibt Walicki noch einmal einen Abriss über Berlins wesentliche Werke zur intelligencija und das intellektuelle Leben im vor- sowie nachrevolutionären Russland. Besonders hebt Walicki Berlins feinsinnige Unterscheidung von sowjetischen und russischen Aspekten hervor. Immer wieder kommt Berlin in seinen Aufsätzen zwischen den 1950er und den 1990er Jahren auf die angeblichen Zusammenhänge zwischen der intelligencija und dem sowjetischen Totalitarismus zu sprechen, was Walicki immer wieder betont. Der Anhang besteht aus einem knappen Nachwort, Walickis Rede anlässlich der Verleihung des Balzan-Preises 1998, eine Darstellungen von Berlins und Walickis Karrierestationen sowie einer Danksagung; ein Register fehlt leider.

Der Aufbau des Buches ist insofern kreativ gestaltet, als am Anfang die Umstände und später die Inhalte der Freundschaft dargestellt werden, die aufschlussreichen Briefe im Zentrum der Publikation stehen und die letzten beiden Kapitel sich mit dem Autor und dem Protagonisten befassen, unabhängig voneinander und doch nah verwandt in der Themenwahl. Es ist zweifellos ein interessantes und hilfreiches Werk bei der Arbeit über Isaiah Berlin, Philosophie oder auch Wissenschaftsgeschichte, setzt allerdings Grundkenntnisse über Berlins philosophische Konzepte voraus.


Anmerkung:

[1] Andrzej Walicki: Isaiah Berlin as I Knew Him, in: Dialogue and Universalism (2005), 9-10, 5-50; Briefe ebenda, 53-175.

Rezension über:

Andrzej Walicki: Encounters with Isaiah Berlin. Story of an Intellectual Friendship (= Warschauer Studien zur Kultur- und Literaturwissenschaft; 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, 228 S., ISBN 978-3-631-60633-9, EUR 44,80

Rezension von:
Esther Abel
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Empfohlene Zitierweise:
Esther Abel: Rezension von: Andrzej Walicki: Encounters with Isaiah Berlin. Story of an Intellectual Friendship, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/02/24658.html


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