sehepunkte 13 (2013), Nr. 11

Martin Disselkamp: "Nichts ist, Rom, dir gleich."

Die Diagnose, dass "Wer sich aus der historischen Distanz mit dem Thema 'Rom in der Frühen Neuzeit' befassen will, [...] allenthalben kulturgeographische Grenzen überschreiten und mehr als eine wissenschaftliche Disziplin berücksichtigen" müsse (7), wird sicherlich Jeder als treffend bezeichnen, der sich ähnlich intensiv wie Martin Disselkamp mit der wohl beispiellosen Rezeptionsgeschichte dieser Stadt auseinandergesetzt hat. Konsequenterweise verfolgt die vorliegende Studie zwar in erster Linie einen - stark architekturgeschichtlich fokussierten - literaturgeschichtlichen Ansatz, bietet aber gleichermaßen einen verdichtet geschriebenen und weitgefassten Überblick über das europäische Kulturschaffen und seinen politischen wie sozialen Rahmen vom Hochmittelalter bis hinein ins 18. Jahrhundert. In diesem Zeitraum sei das antike Rom "für Fürsten, Gelehrte und Literaten aus ganz Europa von Interesse" (7) gewesen und habe daher auch in Schriftgattungen, die über einen rein antiquarischen Anspruch hinausgingen, "ein fast ubiquitäres Dasein" (ebd.) besessen.

Anhand von acht für ihr jeweiliges Umfeld exemplarisch stehenden Quellen - der Schwerpunkt liegt mit sechs Beispielen auf dem 16. und 17. Jahrhundert -, stellt Disselkamp im Detail Rom-Ideen und antiquarischen "Rekonstruktionseifer" (9) vor; aber eben auch, wie diese sich zeitspezifisch "in Reiseberichten, Versdichtungen und Dramenliteratur [...] spiegeln" (ebd.). Es gelingt ihm dabei, mittels diverser aussagekräftiger und an vielen Stellen zusätzlich im Original ausgeschriebener Quellenzitate das jeweilige zeitgenössische sprachliche Kolorit einzufangen, nicht zuletzt dadurch insgesamt sehr lesenswerte Zeitbilder zu zeichnen und diese auch mit durch den Lauftext gut einbezogene Abbildungen illustrativ zu ergänzen.

Die von Disselkamp zum Teil attestierten Einflussnahmen der Texte untereinander, auf und durch weitere Exponenten der entsprechenden antiquarischen Literatur sind zumeist überzeugend, können von ihm aber oft nur angeschnitten werden, wobei die eingestreuten und nahezu enzyklopädische Ausmaße annehmenden Verweise auf andere Quellenautoren durchaus zu einer selbstständigen Lektüre derselben animieren. Obgleich der Autor somit dezidiert kundtut, es sei "kein Gesamtbild beabsichtigt: das Buch selbst bekennt sich zum Fragmentarischen" (11), wird doch deutlich, dass auf den insgesamt 260 Seiten eine abwechslungsreiche Perspektive angestrebt wird: zu Wort kommen Quellen aus Italien, Sachsen, Frankreich, den Niederlanden, England und Brandenburg. Darunter werden neben namhaften Humanisten und Antiquaren wie Francesco Petrarca (43-68), Georg Fabricius (71-98), Joachim Du Bellay (99-130) und Justus Lipsius (161-184) auch Literaten herangezogen, deren Werken in Hinsicht auf spezifische Rom-Bezüge bislang ein eher geringes Forschungsinteresse galt: Neben den Reisetagebüchern des Essayisten Michel Montaigne aus den 1580er-Jahren (131-158) sind dies William Shakespeares Drama "Coriolanus" von 1608/1609 (185-210) und die als "Brandenburgischer Ulysses" 1668 durch Sigmund von Birken verfasste Verschriftlichung der Kavalierstour des jugendlichen Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth (211-232).

Die Unterschiede in der Annäherung der einzelnen Quellenautoren an Rom sind ebenso vielfältig wie ihre jeweiligen Motive einer schriftlichen Verarbeitung derselben. Da die Stadt spätestens seit der Erfindung des Buchdruckes geradezu zu einer in ganz Europa zugänglichen "mediale[n] Veranstaltung" (75) geraten war, war die Auseinandersetzung mit Rom nur bedingt an persönliche Aufenthalte vor Ort geknüpft. So war es etwa für Fabricius oder Lipsius mit Hilfe humanistischer Gelehrsamkeit möglich, Rom als "eine Art gelehrter Setzkasten" (79) philologisch auszuwerten, für den zunächst lediglich antike Textbefunde "in ein topographisches Erscheinungsbild [zu] verwandeln" (178) waren. Andererseits war für Rombesucher eine intensive Autopsie der antiken Befunde nicht notwendigerweise einer spezifischen antiquarischen Begeisterung geschuldet. So verweigerte sich etwa Montaigne vorgegebenen und rationell gegliederten Besichtigungsrouten, wie sie der zeitgenössische Trend zur Apodemik, der sogenannten Reisekunst, propagierte und streute unregelmäßig abseitige Beobachtungen, etwa von landestypischen Sitten und Gebräuchen oder seines persönlichen Gesundheitszustandes ein; der Aphorismen-Literatur nahstehend bevorzugte er hier offenkundig die "Vielfalt vor der Systematik" (146). Für den jungen adligen Besucher aus Brandenburg hingegen, den die im heroischen Ton gehaltene Aufzeichnung seiner Italienreise - gewissermaßen ein "Übergangsritus" (213) - nach der Rückkehr als regierungstauglichen Fürsten präsentieren sollte, war die persönliche Anwesenheit in Rom unter anderen Gesichtspunkten wichtig. Durch die stereotyp wiederholte visuelle Aneignung geordneter Schausammlungen und der hier nur als Kulisse höfischer Verhaltensnormen fungierenden antiken Realien "partizipiert die Schrift an dem 'Mythos Rom' und nimmt ihn in Anspruch, um die Größe des Prinzen zu veranschaulichen" (228).

Kennzeichnend für die hohe Bedeutung, die dem antiken Rom in diesen Jahrhunderten literarisch beigemessen wurde, sei allerdings nicht allein das Assoziationsspektrum gewesen, welche die Stadt u. a. für Humanisten und Kunstliebhaber zu entfalten vermochte, sondern vor allem auch die empfundene Kontrastierung zu den eigenen Lebensumständen. So formuliert Disselkamp seine These, dass "die Anziehungskraft, die das antike Rom [...] ausübte, [...] einen wichtigen Grund [...] im Unbehagen an der frühneuzeitlichen Gegenwart" (8) gehabt habe. "Irritationen durch unkontrollierte Wissensvermehrung, politische Perspektivenvielfalt, konfessionelle Spannungen, irritierende Stadterfahrungen und die Multiplikation der Meinungen" (230) waren länder- und standesübergreifende Krisenerfahrungen, angesichts derer tradierte oder neuentworfene Rombilder wie ein "Rettungsanker" (8) anmuteten, der "eine Sicherheit, Solidität und Tatkraft, an denen es dem eigenen Zeitalter in mancher Hinsicht zu fehlen schien" (ebd.), zu versprechen schien. Als monumentalisierter und trotz aller Größe städtebaulich rationell angelegter Mittelpunkt eines friedlichen, toleranten und vorbildlich verfassten wie verwalteten zentralisierten Staates verstanden, bildete Rom für Problemstellungen der Frühen Neuzeit so einen regelrechten "europäischen Erlösungsmythos" (11). Gerade hochrangigen Adligen, die - wenn nicht selber als Reisende, so doch als Auftraggeber und Widmungsadressaten - in der frühneuzeitlichen Literatur stetig präsent waren, schien ein solches Rom als vorbildhafter Gegenstand der Nacheiferung bis hin zur Übertreffung angeraten zu sein.

Dass es in Rom beim Blick auf Rom allerdings Unstimmigkeiten zwischen den Idealen und der erlebten Wirklichkeit gab, kann Disselkamp ebenso anhand seiner Quellen herausstellen. Schon lange vor den Gedichten Du Bellays, in deren Mittelpunkt "nicht die Monumentalität antiker Bauwerke, sondern ihr Zerfall" (119) stand, war vielen Zeitgenossen spürbar, dass zwischen ihnen und den betrachten Befunden eine "riesige und letztlich nicht überbrückbare Distanz" (93) lag. Die Aufgabenstellung an frühneuzeitliche Autoren, "das vergängliche Rom mit dem Instrumentarium der humanistischen Gelehrsamkeit in einen dauerhaften Zustand zu überführen" (11) war daher immer auch durch "Zweifel an seiner Rekonstruierbarkeit und Vorbildlichkeit" (9) begleitet. Das im sprechenden Titel anklingende, ursprünglich einem Epigramm Martials entlehnte Motiv der über alles herrschenden und herausragenden Kapitale war schon im frühen 12. Jahrhundert durch den französischen Kleriker Hildebert von Lavardin für seine Elegie De Roma, in welcher dieser die antike Überlieferung mit den seinerseits wahrgenommenen ruinösen Eindrücken abglich, in dieser Ambivalenz wahrgenommen worden (30-34).

Wohl dem exemplarischen Charakter seiner Quellenauswahl Rechnung tragend verzichtet Disselkamp auf ein resümierendes Abschlusskapitel. Die Entscheidung, lediglich einer kurzen aussagekräftigen Einleitung folgend die Vielzahl der einzelnen Fallbeispiele der Rom-Rezeption für sich sprechen zu lassen, teilt seine Studie mit einer weiteren jüngeren Publikation zum Thema [1]; die hier nachgezeichnete kartografische Auseinandersetzung mit Rom bis in die Gegenwart verdeutlicht anschaulich Disselkamps Annahme, "dass jede retrospektive Beschäftigung mit der antiken Stadt, auch die jeweils jüngste, auf Konstruktionen fußt und ihrerseits neue Modelle und Bilder hervorbringt" (8).

Den Modalitäten und Auswirkungen dieses demnach nicht abgeschlossenen Entstehungs-Prozesses von Rom-Bildern und -Gegenbildern weiß Martin Disselkamp mit seiner überzeugenden Darstellung insgesamt weitere interessante Facetten hinzuzufügen und dürfte sich damit erfolgreich in die lange Tradition seiner Quellen einreihen.


Anmerkung:

[1] Steffen Bogen / Felix Thürlemann: Rom. Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute, Darmstadt 2009.

Rezension über:

Martin Disselkamp: "Nichts ist, Rom, dir gleich.". Topographien und Gegenbilder aus dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa (= Stendaler Winckelmann-Forschungen; Bd. 10), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2013, 259 S., 62 Abb., ISBN 978-3-447-06869-7, EUR 50,00

Rezension von:
Dominik Kloss
Universität Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Dominik Kloss: Rezension von: Martin Disselkamp: "Nichts ist, Rom, dir gleich.". Topographien und Gegenbilder aus dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/11/23094.html


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